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Anmerkung zu:OLG Frankfurt Vergabesenat, Beschluss vom 20.06.2024 - 11 Verg 2/24
Autor:Jennifer Kopco, RA'in
Erscheinungsdatum:15.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 160 GWB, § 175 GWB
Fundstelle:jurisPR-VergR 10/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Lutz Horn, RA
Zitiervorschlag:Kopco, jurisPR-VergR 10/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Notwendigkeit der Heranziehung eines Rechtsanwalts im Vergabeverfahren



Leitsätze

1. Für die Frage der Notwendigkeit der Heranziehung eines Rechtsanwalts ist eine differenzierte Betrachtung des Einzelfalls erforderlich.
2. Sofern im Mittelpunkt des Nachprüfungsverfahrens auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen stehen, spricht im Allgemeinen mehr dafür, dass der öffentliche Auftraggeber die erforderlichen Kenntnisse in seinem originären Aufgabenkreis selbst organisieren muss und daher die Heranziehung eines Rechtsanwalts im Nachprüfungsverfahren nicht notwendig ist.
3. In diesem Sinne können auch dann auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen im Mittelpunkt des Nachprüfungsverfahrens stehen, wenn die auftragsbezogenen Fragen primär prozessual, insbesondere im Rahmen der Frage der Antragsbefugnis (§ 160 Abs. 2 GWB) und der Erkennbarkeit des gerügten Sachverhalts (§ 160 Abs. 3 GWB), erörtert werden.



A.
Problemstellung
Das OLG Frankfurt beschäftigt sich – im Rahmen einer im Ergebnis erfolglosen Kostenbeschwerde – mit der Frage der Notwendigkeit der Hinzuziehung einer anwaltlichen Vertretung durch einen öffentlichen Auftraggeber im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer. Bei seiner Beurteilung greift der Senat bereits aus der Rechtsprechung bekannte Aspekte auf und konkretisiert diese durch weiter gehende Erwägungen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der sofortigen Beschwerde geht eine Entscheidung der VK Darmstadt voraus. Diese hatte die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin (und Beschwerdeführerin) nicht für notwendig erklärt.
Gegenstand des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens war die Ausschreibung der Leistungen eines Generalunternehmens für den Neubau einer Schule. Mit Vorabinformation vom 23.02.2024 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin ihre Absicht mit, den Zuschlag am 01.03.2024 auf ein Konkurrenzangebot zu erteilen.
Die Antragstellerin rügte eine zu kurze Wartefrist sowie die unwirksame Bekanntmachung der Eignungskriterien und leitete ein Nachprüfungsverfahren ein. In dessen Verlauf rügte sie ferner die Intransparenz der Zuschlagskriterien. Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag als unzulässig und unbegründet zurück.
In ihrer Entscheidungsbegründung lehnt die Vergabekammer die Notwendigkeit der Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin ab. Hiergegen wendete sich die Antragsgegnerin mit der gegenständlichen sofortigen (Kosten-)Beschwerde.
Vor diesem Hintergrund traf das OLG Frankfurt die nachstehenden Feststellungen:
Die Prüfung, ob die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten im Nachprüfungsverfahren erforderlich ist, habe immer einzelfallbezogen anhand der konkreten Umstände zu erfolgen.
Die Notwendigkeit der Hinzuziehung hänge davon ab, ob der Verfahrensbeteiligte nach den konkreten Einzelfallumständen selbst in der Lage gewesen wäre, den Sachverhalt aufgrund der bekannten bzw. erkennbaren Tatsachen zu erfassen, der im Hinblick auf eine Missachtung von Bestimmungen über das Vergabeverfahren von Bedeutung ist, hieraus die für eine sinnvolle Rechtsverteidigung nötigen Schlüsse zu ziehen und das danach Gebotene gegenüber der Vergabekammer vorzubringen.
Neben der Einfachheit oder Komplexität des Sachverhalts und der Überschaubarkeit oder Schwierigkeit der zu beurteilenden Rechtsfragen könnten etwa auch die prozessuale Waffengleichheit und persönliche Umstände wie die sachliche und personelle Ausstattung des Beteiligten zu berücksichtigende Aspekte sein.
Im Allgemeinen bestehe für öffentliche Auftraggeber keine Notwendigkeit der Hinzuziehung einer Rechtsberatung, wenn sich das Nachprüfungsverfahren hauptsächlich auf auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen einschließlich der dazugehörigen Vergaberegelungen konzentriere. Diese Fragen beträfen regelmäßig den originären Aufgabenbereich des Auftraggebers, in dem er sich selbst die notwendigen Sach- und Rechtskenntnisse zu verschaffen habe.
Sowohl die Rüge der zu kurz bemessenen Wartefrist als auch die der nicht ordnungsgemäßen Bekanntmachung der Eignungskriterien und der Intransparenz der Zuschlagskriterien bezögen sich auf eben solche sach- und auftragsbezogenen Fragen, mit denen ein Auftraggeber regelmäßig befasst sei. Die Themen seien ferner in Literatur und Rechtsprechung intensiv behandelt, so dass sich die Antragsgegnerin ohne Weiteres hätte das erforderliche Wissen beschaffen können.
Die Behandlung primär prozessualer Fragen begründe nicht per se die Notwendigkeit der Hinzuziehung. Fragen der Antragsbefugnis und Rügepräklusion stellten sich in einer Vielzahl von Nachprüfungsverfahren und seien daher von Auftraggebern beherrschbar, wenn nicht ausnahmsweise spezifisch prozessuale Rechtsfragen eine abweichende Beurteilung erforderten. Das gelte umso mehr, als die erörterten prozessualen Fragen unmittelbar an die gerügten materiellen Vergaberechtsverstöße anknüpften.
Die Notwendigkeit der Hinzuziehung lasse sich auch nicht damit begründen, dass die Vergabestelle keinen auf das Vergaberecht spezialisierten Juristen beschäftige. Von einer Großstadt mit großer und spezialisierter Verwaltungsstruktur sowie erheblicher Erfahrung und alltäglicher Praxis bei der Durchführung von Vergabeverfahren, habe eine Stellungnahme aus eigenen personellen Kapazitäten erwartet werden können. Dem stehe nicht entgegen, dass es zunächst einer intensiven Einarbeitung bedurft hätte.


C.
Kontext der Entscheidung
Das OLG Frankfurt schreibt mit seiner Entscheidung die Einzelfallrechtsprechung zur Frage der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch den öffentlichen Auftraggeber fort. Der Beschluss steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats und der aktuell klaren Rechtsprechungstendenz, nach der die Nachprüfungsinstanzen in diesem Punkt regelmäßig bieterfreundlich entscheiden.
Die Entscheidung, ob die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch den Auftraggeber notwendig war und damit eine Kostenerstattungspflicht durch den unterlegenen Antragsteller begründet ist, ist immer im Einzelfall anhand der konkreten Umstände zu treffen. Hierbei kommt es auf eine ex-ante-Prognose an (vgl. BGH, Beschl. v. 26.09.2006 - X ZB 14/06; BayObLG, Beschl. v. 26.05.2023 - Verg 17/22), d.h. für die Beurteilung der Notwendigkeit ist auf den Zeitpunkt der Beauftragung zur Vertretung im Nachprüfungsverfahren abzustellen. Maßgeblich ist, ob ein verständiger Auftraggeber unter Beachtung seiner Pflicht zur Geringhaltung der Kosten die Beauftragung einer externen Rechtsberatung für erforderlich halten durfte.
Das Erfordernis einer vertieften Prüfung des Einzelfalls dürfte allein im Beschwerdeverfahren entfallen, wenn der Auftraggeber über keinen Angestellten oder Beamten mit Befähigung zum Richteramt verfügt. In diesem Fall ergibt sich die Notwendigkeit der Hinzuziehung bereits aus dem Gesetz (§ 175 Abs. 1 GWB).
Im Allgemeinen werden dem Auftraggeber weitgehende Kenntnisse und Fähigkeiten in der Durchführung von Vergabeverfahren und auch Nachprüfungsverfahren abverlangt. Der Senat stellt mit gegenständlicher Entscheidung ausdrücklich klar, dass die vergaberechtlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht bereits bestehen müssen – es reiche vielmehr aus, dass ein Zugriff möglich ist (umfassende Rechtsprechung und Literatur).
Der „originäre Aufgabenkreis“, in dem sich der Auftraggeber nach herrschender Auffassung selbst die erforderlichen Sach- und Rechtskenntnisse zu verschaffen habe (z.B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.12.2014 - VII-Verg 37/13; OLG Frankfurt, Beschl. v. 02.11.2017 - 11 Verg 8/17; OLG München, Beschl. v. 24.01.2012 - Verg 16/11), wird weit verstanden. Die Komplexität des Verfahrens sei im Besonderen dann abzulehnen, wenn sich die Aufgabe des Auftraggebers im Nachprüfungsverfahren darauf beschränkt, die eigene Tätigkeit und bereits getroffenen und näher begründeten Entscheidungen darzustellen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.12.2022 - VII-Verg 37/22; OLG Celle, Beschl. v. 05.11.2020 - 13 Verg 7/20). So sei dem Auftraggeber etwa die Verteidigung seiner Konzeptwertung im Hinblick auf das Einhalten der Beurteilungs- und Wertungsspielräume selbst möglich (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.11.2018 - Verg 60/17). Ein starkes Indiz gegen die Notwendigkeit der Hinzuziehung dürfte demnach sein, wenn die Rechtsberatung zur Prüfung und Erstellung der Schriftsätze maßgeblich auf die fachliche Zuarbeit des Auftraggebers angewiesen ist.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung verdeutlicht einmal mehr, dass der Antrag auf Erklärung der Notwendigkeit der Hinzuziehung einer Rechtsberatung durch öffentliche Auftraggeber längst kein Selbstläufer mehr ist.
Es wird klar: Von öffentlichen Auftraggebern wird grundsätzlich erwartet, dass sie sowohl das materielle als auch das prozessuale Vergaberecht weitgehend beherrschen und ihr Vorgehen sowie ihre Rechte in etwaigen Nachprüfungsverfahren dementsprechend selbst verteidigen können. Eine Ausnahme hiervon ist nur dann gegeben, wenn der Streit eine besondere Komplexität aufweist oder andere besondere Umstände diese rechtfertigen.
In jedem Fall tun Auftraggeber gut daran, ihren Antrag auf Erklärung der Notwendigkeit der Hinzuziehung substanziiert zu begründen. Der in der Praxis regelmäßig zu lesende pauschale Verweis darauf, dass die Durchführung des Nachprüfungsverfahrens aufgrund der fehlenden personellen und fachlichen Kapazitäten nicht selbstständig geleistet werden kann und eine Hinzuziehung eines spezialisierten Verfahrensbevollmächtigten aus Gründen der Waffengleichheit geboten ist, reicht mithin nicht aus (insb. auch bei kleinen Gemeinden, vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.08.2024 - 15 Verg 8/24).
Öffentlichen Auftraggebern steht es dennoch freilich stets offen, sich einer externen Rechtsberatung im Nachprüfungsverfahren zu bedienen – dies aber eben in der Regel nicht auf Kosten der Wettbewerbsteilnehmer.
Für Bewerber/Bieter bedeutet diese Rechtsprechung gewissermaßen eine Stärkung ihres Rechtsschutzes im Vergabeverfahren. Mit der Nachprüfung ist regelmäßig ein Kostenrisiko verbunden, das nicht selten von der Einleitung des Verfahrens abschreckt. Dieses Kostenrisiko wird nicht unerheblich gesenkt, wenn davon auszugehen ist, dass zumindest die Aufwendungen des Auftraggebers für die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten im Falle eines Unterliegens nicht zu tragen sind.



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