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Anmerkung zu:LArbG Hamburg 6. Kammer, Urteil vom 06.02.2024 - 6 Sa 14/23
Autor:Thomas Buchner, RA, FA für Arbeitsrecht und FA für Verkehrsrecht
Erscheinungsdatum:12.02.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 286 ZPO, § 130 ZPO, § 612 BGB
Fundstelle:jurisPR-ArbR 6/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Buchner, jurisPR-ArbR 6/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anforderungen an die Darlegung von Überstunden im Prozess



Leitsätze

1. Gerichte sind nicht verpflichtet, umfangreiche ungeordnete Anlagenkonvolute von sich aus durchzuarbeiten, um so die erhobenen Ansprüche zu konkretisieren. Erforderlicher Sachvortrag kann nicht durch die bloße Vorlage von Anlagen ersetzt werden. Werden aber tabellarische Aufstellungen konkret in Bezug genommen, die aus sich heraus verständlich sind, verlangt dies keine unzumutbare Sucharbeit des Gerichts. Es wäre eine nicht zu rechtfertigende Förmelei, wollte man die Partei für verpflichtet halten, eine solche Aufstellung kopieren oder abschreiben zu lassen, um sie in den Schriftsatz selbst zu integrieren.
2. Eine von der Arbeitgeberin für regelmäßig vorkommende Geschäfte erteilte Handlungsvollmacht betrifft die Vertretung des Unternehmens nach außen bei Geschäften mit Dritten und berechtigt den Arbeitnehmer nicht zu entgeltrelevanten „Überstundenanweisungen an sich selbst“.
3. Die pauschale Behauptung, dass die Vielzahl der Aufgaben nicht in der vertraglichen monatlichen Arbeitszeit erledigt werden konnten, genügt nicht, um eine konkludente Anordnung von Überstunden durch den Arbeitgeber darzulegen. Denn es wird nicht deutlich, welche einzelnen Tätigkeiten in einem bestimmten Zeitraum (Tag, Woche, Monat) aufgrund der Aufgabenzuweisung durch die Arbeitgeberin von dem Arbeitnehmer zu erledigen waren, welche Zeit diese Tätigkeiten im Einzelnen beanspruchten und weshalb es nicht möglich war, die anfallenden Aufgaben innerhalb der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit zu erledigen.
4. Aus der bloßen Kenntnis der Geschäftsführerin der Arbeitgeberin von Stunden- und Arbeitsnachweisen ergibt sich noch kein Einverständnis mit der Leistung von Überstunden. Die widerspruchslose Entgegennahme der vom Arbeitnehmer gefertigten Arbeitszeitaufzeichnungen reicht nicht aus für die Billigung von Überstunden.



A.
Problemstellung
Die Vergütung von über die „normale“ Arbeitszeit hinausgehender Arbeitsleistung, regelmäßig als „Überstunden“ bezeichnet, ist gerade nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses eine häufig anzutreffende Thematik. Solange das Arbeitsverhältnis für beide Parteien zufriedenstellend verläuft, wird die über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistete Tätigkeit selten zum Gegenstand einer tatsächlichen Erörterung gemacht. Der Arbeitnehmer möchte regelmäßig das gute Klima zum Arbeitgeber nicht mit finanziellen Forderungen belasten, der Arbeitgeber nimmt die zunächst kostenlose Arbeitsleistung natürlich gerne an. Die Situation ändert sich meist, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird, weil der Arbeitnehmer dann keine Rücksicht mehr auf die persönliche Beziehung zum Arbeitgeber nehmen muss. Zumeist wird der Arbeitnehmer dann aber auch damit konfrontiert, dass die Anforderungen an die erfolgreiche Realisierung eines Anspruchs auf Überstundenvergütung sehr hoch sind. Dies zeigt die vorliegende Entscheidung nochmals eindrucksvoll auf.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien, ein Pflegedienst und deren Arbeitnehmerin, stritten um Vergütung für 242,8 Überstunden in Höhe von insgesamt 10.954,87 Euro brutto. In § 3a des Arbeitsvertrags waren Regelungen zum Führen eines Arbeitszeitkontos enthalten, „Plusstunden“ konnten bis zu einer Gesamthöhe von 225 Arbeitsstunden in das Arbeitszeitkonto eingestellt werden. „Plusstunden“, welche über die 225-Arbeitsstunden-Grenze hinausgehen, würden spätestens zu dem im Arbeitsvertrag genannten Fälligkeitszeitpunkt durch Auszahlung oder bezahlte Freizeit ausgeglichen. Darüber hinaus war geregelt, dass „Plusstunden“ spätestens 16 Monate nach ihrem Entstehen durch Auszahlung oder bezahlte Freizeit ausgeglichen würden. Darüber hinaus enthielt § 4 des Arbeitsvertrags eine Regelung, nach der Mehrarbeit und Überstunden „grundsätzlich“ nicht vergütet, sondern durch bezahlte Freizeit ausgeglichen werden sollten.
Die Klägerin erstellte im Rahmen ihrer Tätigkeit als Pflegedienstleitung die Dienstpläne eigenständig, sie nahm auch die entsprechende Einteilung der Mitarbeitenden vor und erfasste die Arbeitszeiten für sich selbst und alle anderen Mitarbeitenden. Sie übernahm auch Besuche bei Patientinnen und Patienten. Die Klägerin leitete die von ihr erstellten Stundennachweise für sich und die weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Steuerberater der Beklagten weiter, übermittelte jeweils eine Kopie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und legte eine weitere Kopie in einem Ordner ab. Die Geschäftsführerin der Beklagten wusste von der Existenz der Stundennachweise, zeichnete sie jedoch nicht ab. Daneben erstellte die Klägerin handschriftliche Zettel, auf denen sie monatsweise für die einzelnen Beschäftigten die Plus- und Minusstunden der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfasste, diese fotografierte und per WhatsApp-Nachrichten an die Geschäftsführerin der Beklagten übermittelte. Mit einer WhatsApp-Nachricht vom 23.06.2022 teilte die Geschäftsführerin der Beklagten der Klägerin Folgendes mit:
„Ich habe gesagt, dass es nicht sein kann dass du so viele Überstunden hast. Darüber reden wir gern nochmals morgen.“
In dem nachfolgenden Gespräch stellte die Geschäftsführerin der Beklagten der Klägerin gegenüber klar, dass von ihr keine Überstunden angeordnet worden seien und ein Ausgleich dieser Stunden nicht erfolgen werde, da diese aus Sicht der Geschäftsführerin gar nicht abgeleistet worden sein könnten. Die Klägerin erklärte mit Schreiben vom 02.11.2022 die fristgerechte Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2022. Sie arbeitete bis einschließlich 04.11.2022. Anschließend nahm sie Urlaub sowie bezahlte Freizeit wegen geleisteter Überstunden in Anspruch.
Das Arbeitsgericht hatte die Klage als unbegründet abgewiesen. Hiergegen richtete sich die Berufung der Klägerin, welche das LArbG Hamburg als zulässig, aber unbegründet erachtete.
Die Klägerin könne von der Beklagten keine Vergütung für 242,8 Überstunden in Höhe von insgesamt 10.954,87 Euro brutto verlangen. Denn aus dem Vorbringen der Klägerin ergebe sich nicht mit der gebotenen Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit, dass die Klägerin über die bereits vergütete Arbeitszeit hinaus weitere Arbeitsleistungen für die Beklagte erbracht hat. Darüber hinaus habe die Klägerin nicht substanziiert dargelegt, dass die Beklagte die Leistung von Überstunden angeordnet, gebilligt oder geduldet habe. Verlange eine Arbeitnehmerin Arbeitsvergütung für Überstunden, habe sie darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, dass sie Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang verrichtet habe. Dabei sei es zunächst ausreichend, wenn sie schriftsätzlich vortrage, an welchen Tagen sie von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten habe. Mit dem Vortrag, zu bestimmten Zeiten gearbeitet zu haben, behaupte die Arbeitnehmerin nämlich regelmäßig zugleich, während der genannten Zeiten die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben. Das sei für die erste Stufe der Darlegung ausreichend (vgl. BAG, Urt. v. 04.05.2022 - 5 AZR 359/21 Rn. 15).
Von der Substanziierung des Tatsachenvortrags zu trennen sei aber die Frage nach dessen Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit. Denn „substanziiertes Lügen“ ändere nichts an der Substanz des Sachvortrags, sondern betreffe dessen Glaubwürdigkeit. Insoweit obliege es vornehmlich den Tatsacheninstanzen, unbeschadet einer etwaigen Einlassung des Arbeitgebers im Rahmen des § 286 Abs. 1 ZPO die Glaubwürdigkeit des Sachvortrags der Arbeitnehmerin zu beurteilen (vgl. BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12 Rn. 11). Hierzu reiche es grundsätzlich nicht aus, durch die bloße Bezugnahme auf als Anlagen beigefügte Stundenaufstellungen oder sonstige Aufzeichnungen zu den Zeiten der Arbeitsleistung oder des sich Bereithaltens vorzutragen. Denn Anlagen könnten lediglich zur Erläuterung des schriftsätzlichen Vortrags dienen, diesen aber nicht ersetzen, die Darlegung der Leistung von Überstunden durch die Arbeitnehmerin habe vielmehr ebenso wie die substanziierte Erwiderung hierauf durch den Arbeitgeber entsprechend § 130 Nr. 3 und Nr. 4 ZPO schriftsätzlich zu erfolgen. Beigefügte Anlagen könnten aber den schriftsätzlichen Vortrag lediglich erläutern oder belegen, das Gericht aber nicht verpflichten, sich die unstreitigen oder streitigen Arbeitszeiten aus den Anlagen selbst zusammenzusuchen (vgl. BAG, Urt. v. 16.05.2012 - 5 AZR 347/11 Rn. 29).
Nach diesen Maßstäben habe die Klägerin nicht schlüssig und glaubwürdig vorgetragen, dass sie Überstunden für die Beklagte geleistet habe, die bislang nicht vergütet worden seien, soweit sie Zeugenbeweis angeboten habe, sei dieser nicht zu erheben. Für Lage und Umfang der von ihr geleisteten Arbeitsstunden stütze sich die Klägerin allein auf eine Anlage, diese Stundennachweise/Arbeitsnachweise habe die Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum aber unstreitig durch händische Eintragungen selbst erstellt, weshalb diese nicht als Beweismittel, sondern nur zur Ergänzung des klägerischen Sachvortrags in Betracht kämen. Zwar führe es für sich genommen nicht zur fehlenden Schlüssigkeit oder Ungläubigkeit des Vorbringens, wenn die Klägerin für Beginn, Ende und Umfang der behaupteten täglichen Arbeitszeit auf eine tabellarische Aufstellung in einer Anlage Bezug nehme. Denn die Gerichte seien zwar nicht verpflichtet, umfangreiche ungeordnete Anlagenkonvolute von sich aus durchzuarbeiten, um so die erhobenen Ansprüche zu konkretisieren, auch könne erforderlicher Sachvortrag nicht durch die bloße Vorlage von Anlagen ersetzt werden. Würden aber tabellarische Aufstellungen konkret in Bezug genommen, die aus sich heraus verständlich sind, verlange dies keine unzumutbare Sucharbeit des Gerichts, es wäre eine nicht zu rechtfertigende Förmelei, wollte man die Partei für verpflichtet halten, eine solche Aufstellung kopieren oder abschreiben zu lassen, um sie in den Schriftsatz selbst zu integrieren (vgl. BGH, Beschl. v. 02.10.2018 - VI ZR 213/17 Rn. 8). Hier seien die Stundennachweise/Arbeitsnachweise der Klägerin selbsterklärend, die jeweils angegebenen Ist-Arbeitszeiten würden addiert und mit der Soll-Arbeitszeit abgeglichen. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebiete es deshalb, die eingereichten Stundennachweise/Arbeitsnachweise als Parteivorbringen der Klägerin zu werten.
Dennoch sei das in der Einreichung der Tabellen liegende Vorbringen der Klägerin unschlüssig. Denn die Berücksichtigung von weiterem Vorbringen der Klägerin, das mit den Angaben zu den geleisteten Tätigkeiten und der tatsächlich erbrachten Arbeitszeit in den Stundennachweisen/Arbeitsnachweisen nicht in Einklang zu bringen sei, führe dazu, dass das Gericht von der Richtigkeit der Eintragungen in den Tabellen nicht in hinreichendem Maße überzeugt sei, denn aus der Nachvollziehbarkeit einer Tabelle ergebe sich nicht zugleich ihre inhaltliche Richtigkeit. Zweifel an der Richtigkeit der Angaben in den Stundennachweisen/Arbeitsnachweisen der Klägerin bestünden insbesondere deshalb, weil sie für den Zeitraum 04.08.2021 bis 18.08.2021 weitere Unterlagen eingereicht habe, die Angaben zur Arbeitszeit und zu Arbeitsaufgaben der Klägerin enthalten und welche nicht in Übereinstimmung mit den Stundennachweisen/Arbeitsnachweisen zu bringen seien. Vom 04.08.2021 bis zum 18.08.2021 habe die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen Patientenbesuche wahrgenommen, ihre Einsatzzeiten im Besuchsplan deckten sich aber weder mit den Arbeitszeitangaben in den Stundennachweisen/Arbeitsnachweisen noch mit dort eingetragenen Arbeitsinhalten. Es fehle daher an schlüssigem Sachvortrag der Klägerin dazu, der diese Widersprüche erklären könne. Es könne deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass die Eintragungen in den Stundennachweisen/Arbeitsnachweisen präzise die Arbeitszeiten und die Arbeitsinhalte abbilden würden, die von der Klägerin an den einzelnen Tagen erbracht worden seien. Eintragungen, die „ins Blaue hinein“ erfolgt seien, seien aber kein schlüssiger, glaubwürdiger Sachvortrag, der im Rahmen einer abgestuften Darlegungslast (vgl. BAG, Urt. v. 16.05.2012 - 5 AZR 347/11 Rn. 27) eine substanziierte Erwiderung des Arbeitgebers zu den Arbeitszeiten an den einzelnen Tagen erforderlich machen würde.
Der angebotene Zeugenbeweis sei nicht zu erheben, das klägerische Vorbringen zu den geleisteten Arbeitszeiten werde nicht dadurch schlüssig, dass sich die Klägerin in allgemeiner Form auf Wahrnehmungen der Kollegenschaft und der Geschäftsführerin der Beklagten beziehe, um ihre Anwesenheit im Betrieb zu belegen. Selbst wenn zugunsten der Klägerin unterstellt werde, dass sie bislang nicht vergütete weitere Überstunden geleistet habe, habe sie keinen Anspruch auf die geltend gemachte Überstundenvergütung, denn sie habe die Veranlassung der Überstundenleistung durch die Beklagte nicht substanziiert dargelegt. Der Arbeitgeber müsse sich Leistung und Vergütung von Überstunden nicht aufdrängen lassen, und der Arbeitnehmer könne nicht durch überobligatorische Mehrarbeit seinen Vergütungsanspruch selbst bestimmen. Dies gelte unabhängig davon, ob die Vergütungspflicht für Überstunden auf arbeitsvertraglicher Vereinbarung, tarifvertraglicher Verpflichtung des Arbeitgebers oder § 612 Abs. 1 BGB beruhe (vgl. BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12 Rn. 13). Für diese arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung müssten Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sein (vgl. BAG, Urt. v. 16.05.2012 - 5 AZR 347/11 Rn. 27), wobei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass diese Voraussetzungen gegeben sind, der Arbeitnehmer als Anspruchsteller zu tragen habe (vgl. BAG, Urt. v. 18.04.2012 - 5 AZR 248/11 Rn. 15).
Hier sei unstreitig, dass die Klägerin die zeitliche Lage ihrer Arbeitszeit selbst gewählt habe und hierbei keinen Weisungen gefolgt sei. Konkludent ordne der Arbeitgeber Überstunden an, wenn er dem Arbeitnehmer Arbeit in einem Umfang zuweist, der unter Ausschöpfung der persönlichen Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers nur durch die Leistung von Überstunden zu bewältigen sei. Dabei begründe allein die Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb oder an einem Arbeitsort außerhalb des Betriebs keine Vermutung dafür, Überstunden seien zur Erbringung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen (vgl. BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12 Rn. 17). Mit der Billigung von Überstunden ersetze der Arbeitgeber gleichsam durch eine nachträgliche Genehmigung die fehlende vorherige Anordnung schon geleisteter Überstunden. Die Billigung von Überstunden setze deshalb voraus, dass der Arbeitgeber zu erkennen gebe, mit der schon erfolgten Leistung bestimmter Überstunden einverstanden zu sein. Der Arbeitnehmer müsse darlegen, wer wann auf welche Weise zu erkennen gegeben habe, mit der Leistung welcher Überstunden einverstanden zu sein (vgl. BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12 Rn. 19). Die Duldung von Überstunden bedeute, dass der Arbeitgeber in Kenntnis einer Überstundenleistung diese hinnimmt und keine Vorkehrungen treffe, die Leistung von Überstunden zu unterbinden. Allein die Aufzeichnung der Kommt- und Geht-Zeiten des Arbeitnehmers begründe aber keine Kenntnis des Arbeitgebers von einer bestimmten Überstundenleistung (vgl. BAG, Urt. v. 04.05.2022 - 5 AZR 359/21 Rn. 36). Erst wenn der Arbeitnehmer seine Aufzeichnungen hinsichtlich der Arbeitsleistung konkretisiere und mit einem Hinweis auf eine Überstundenleistung verbinde, sei der Arbeitgeber gehalten, dem nachzugehen und ggf. gegen nicht gewollte Überstunden einzuschreiten (vgl. BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12 Rn. 21). Deshalb könne vorliegend nicht von einer Duldung ausgegangen werden, die Klägerin habe die Übermittlung der Stundennachweise/Arbeitsnachweise und der handgeschriebenen Zettel per WhatsApp nicht mit dem Hinweis verbunden, dass sie in erheblichem Umfang Überstunden leiste. Als der Geschäftsführerin der Beklagten im Juni 2022 der Umfang der Plus-Stunden auf dem Arbeitszeitkonto der Klägerin aufgefallen sei, sei sie eingeschritten. Es sei davon auszugehen, dass sie auch zu einem früheren Zeitpunkt interveniert und Überstunden verhindert hätte, wenn sie von der Ableistung von Überstunden Kenntnis erlangt hätte. Ein Anspruch der Klägerin sei damit insgesamt nicht gegeben.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung setzt sich zunächst ausführlich mit der ständigen Rechtsprechung des BAG zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess auseinander. Nach § 612 Abs. 1 BGB gilt eine Vergütung als stillschweigend vereinbart, wenn die Arbeitsleistung nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. § 612 Abs. 1 BGB bildet nicht nur in den Fällen, in denen überhaupt keine Vergütungsvereinbarung getroffen wurde, sondern auch dann die Rechtsgrundlage für den Anspruch auf die Vergütung, wenn der Arbeitnehmer auf Veranlassung des Arbeitgebers quantitativ mehr arbeitet als von der Vergütungsabrede erfasst (vgl. BAG, Urt. v. 21.12.2016 - 5 AZR 362/16 Rn. 15). Ausreichend ist stets, wenn der Arbeitnehmer schriftsätzlich vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber dann substanziiert erwidern und im Einzelnen vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen (nicht) nachgekommen ist. Lässt er sich nicht substanziiert ein, gilt der Sachvortrag des Arbeitnehmers als zugestanden (vgl. BAG, Urt. v. 21.12.2016 - 5 AZR 362/16 Rn. 23). Eine Präzisierung hat das BAG in der auch vom Landesarbeitsgericht zitierten Entscheidung vom 04.05.2022 vorgenommen. In der Folge der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 war nämlich umstritten, ob europarechtliche Anforderungen im Hinblick auf die Verpflichtungen des Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeit etwas an der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess ändern (vgl. hierzu LArbG Mainz, Urt. v. 19.02.2021 - 8 Sa 169/20, mit Anm. Neumair, jurisPR-ArbR 26/2022 Anm. 4). Nach Auffassung des BAG ist vom Erfordernis der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden auch nicht vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit (EuGH, Urt. v. 14.05.2019 - C-55/18 „CCOO“) abzurücken, die Pflicht zur Messung der Arbeitszeit hat keine Auswirkung auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess (vgl. BAG, Urt. v. 04.05.2022 - 5 AZR 359/21 Rn. 22). Insoweit verbleibt es bei den bisherigen Grundsätzen, die das Landesarbeitsgericht zutreffend referiert.
Einen Schwerpunkt der Entscheidung bildet die Frage, in welcher Form der Arbeitnehmer die behaupteten Überstunden gegenüber dem Gericht nachweisen muss. Hier hatte die Klägerin selbst gefertigte, nicht von der Geschäftsführerin unterzeichnete Aufzeichnungen vorgelegt. Das Landesarbeitsgericht bemängelt hier zunächst, dass die Bezugnahme auf Anlagen konkreten schriftsätzlichen Vortrag nicht ersetzen kann. Das ist zwar grundsätzlich zutreffend, es ist aber zu berücksichtigen, dass die Verfahrensbestimmungen der Prozessordnung nur Hilfsmittel für die Verwirklichung oder Wahrung von Rechten sind. Die Durchsetzung des materiellen Rechts soll so wenig wie möglich an Verfahrensfragen scheitern (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 07.09.2011 - 1 BvR 1460/10). Eine Klage ist etwa nicht bereits unzulässig, wenn für ihre Beurteilung auch beigefügte Anlagen erforderlich sind. Es genügt zwar nicht eine pauschale Bezugnahme auf umfangreiche Anlagen ohne Spezifizierung (BVerfG, Beschl. v. 29.02.2012 - 2 BvR 368/10), selbst wenn diese in den Schriftsatz kopiert werden (BVerfG, Beschl. v. 20.06.2007 - 2 BvR 1042/07), aber wenn es sich um verständliche Anlagen handelt, die ohne besonderen Aufwand zu erfassen sind, steht deren prozessualer Verwertung nichts entgegen (vgl. LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 05.12.2019 - 10 Sa 706/19 Rn. 19, mit Anm. Neumair, jurisPR-ArbR 20/2020 Anm. 7). Hiervon geht letztlich auch das Landesarbeitsgericht aus und unterzieht die eingereichten Aufstellungen einer inhaltlichen Prüfung. Letztlich reichten die Aufstellungen auch deshalb nicht aus, weil sich aus anderem Sachvortrag inhaltliche Widersprüche ergeben haben. Das Landesarbeitsgericht unterscheidet dabei aber nicht trennscharf zwischen der Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit. Nach ständiger Rechtsprechung betreffen Umstände wie die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe eines Zeugen seine Glaubwürdigkeit, die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage aber die Glaubhaftigkeit (st. Rspr, vgl. etwa BGH, Urt. v. 19.01.2023 - III ZR 234/21 Rn. 40). Wenn das Landesarbeitsgericht ausführt, die Klägerin habe keinen schlüssigen, glaubwürdigen Sachvortrag gehalten, ist damit eigentlich gemeint, dass der Vortrag der Klägerin nicht glaubhaft war. Das Landesarbeitsgericht beruft sich gerade nicht auf die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe der Klägerin als personale Eigenschaften, welche einer Anerkennung des Vortrags entgegenstehen. Diese dogmatische Unschärfe ändert am Ergebnis der Entscheidung jedoch nichts.
Gar nicht beschäftigt hat sich das Landesarbeitsgericht mit der arbeitsvertraglichen Seite. Das BAG hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Vereinbarungen im Arbeitsvertrag dafürsprechen können, dass der Arbeitgeber Überstunden grundsätzlich billigt. Wenn der Arbeitgeber sich mit einer arbeitsvertraglichen Regelung, die sich im Nachhinein als unwirksam herausstellt, dagegen absichern wollte, Überstunden „extra“ vergüten zu müssen, deutet dies darauf hin, dass er bei den Arbeiten mit dem Anfall von Überstunden durchaus rechnet und „bei Bedarf“ die Leistung von Überstunden auch erwartet. Solche Klauseln sind geeignet, beim Arbeitnehmer den Eindruck zu erwecken, der Arbeitgeber billige grundsätzlich die Leistung von Überstunden. Dass der mit der Klausel verfolgte Zweck, Überstunden nicht gesondert vergüten zu müssen, nicht erreicht werden konnte, liegt dann im Risikobereich des Arbeitgebers (vgl. BAG, Urt. v. 04.05.2022 - 5 AZR 474/21 Rn. 35). Hier hatten die Parteien im Arbeitsvertrag die Einrichtung eines Arbeitszeitkontos vereinbart, es gab ausdrückliche Regelungen zum erlaubten Saldo des Kontos. An anderer Stelle im Arbeitsvertrag war geregelt, dass Überstunden grundsätzlich nur durch Freizeit ausgeglichen werden, obwohl in den Regelungen zum Arbeitszeitkonto auch eine Vergütung vorgesehen war. Hieraus hätte das Landesarbeitsgericht durchaus ableiten können, dass eine grundsätzliche Billigung des Arbeitgebers hinsichtlich der Überstunden vorlag. Ob der Tatsachenvortrag der Arbeitnehmerin tatsächlich so widersprüchlich gewesen ist, wie das Landesarbeitsgericht dies darstellt, lässt sich ohne Kenntnis der Verfahrensakten kaum beurteilen. Ob die Entscheidung daher zutreffend ist, kann auf Basis der Urteilsgründe nicht gesagt werden. Die Revision hat das Landesarbeitsgericht allerdings nicht zugelassen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung verdeutlicht dennoch einmal mehr, dass es für den Arbeitnehmer meistens keine gute Entscheidung ist, die Ableistung von Überstunden im laufenden Arbeitsverhältnis nicht zu thematisieren und quasi stillschweigend vorzunehmen. Wenn dann bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses doch die Überstunden geltend gemacht werden, ergeben sich hieraus erhebliche Probleme, wie die besprochene Entscheidung einmal mehr aufzeigt. Insofern wäre es vorzugswürdig, die Frage der Vergütung von Überstunden schon bei deren Anfall zu klären und insbesondere auf eine Gegenzeichnung durch den Vorgesetzten zu drängen. Dass die Anforderungen an die Geltendmachung von Überstunden im Prozess trotz der Entscheidung des BAG vom 04.05.2022 nach wie vor hoch sind, zeigt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts deutlich auf.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht befasst sich zudem mit einem allgemeinen, aber immer wiederkehrenden Problem prozessualer Art, nämlich der mehr oder minder ausreichenden schriftsätzlichen Bezugnahme auf Inhalte von Anlagen. Hierzu existiert eine vom Landesarbeitsgericht nicht in Bezug genommene, jedoch gefestigte Rechtsprechung des BGH, etwa in den Leitsätzen des nachstehend zitierten Urteils:
„Gerichte sind nicht verpflichtet, umfangreiche ungeordnete Anlagenkonvolute von sich aus durchzuarbeiten, um so die erhobenen Ansprüche zu konkretisieren. Nimmt der Kläger zur Substanziierung seines Anspruchs allerdings auf eine aus sich heraus verständliche (und im Streitfall nicht einmal eine Seite umfassende) Darstellung in den Anlagen konkret Bezug und verlangt die Berücksichtigung der in Bezug genommenen Anlage vom Tatrichter keine unzumutbare Sucharbeit, so liegt eine solche Fallgestaltung nicht vor (Fortführung BGH, Urt. v. 17. Juli 2003 - I ZR 295/00, NJW-RR 2004, 639, 640)“ (BGH, Urt. v. 02.10.2018 - VI ZR 213/17).
Aus anwaltlicher Sicht ist die überwiegende oder bloße Bezugnahme auf Anlagen ein Ritt auf der Rasierklinge anwaltlicher Haftung, der stets gemieden werden sollte.



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