Kontext der Entscheidung
Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum zum Familiennachzug erteilt werden.
I. Die Erteilung des Visums und die spätere Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht gemäß § 36a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG im Ermessen der zuständigen Behörde. Nach § 36a Abs. 1 Satz 3 AufenthG besteht für den von § 36a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG erfassten Personenkreis kein Anspruch auf Familiennachzug. § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG kontingentiert die Erteilung nationaler Visa für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG auf den monatlichen Höchstwert von 1.000. Übersteigt die Anzahl der beantragten Visa diesen Wert, so hat die zuständige Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschland ihr Entschließungsermessen auf der Grundlage einer Vorprüfung der Erteilungsvoraussetzungen durch die Ausländerbehörde und einer Auswahl(zwischen)entscheidung des Bundesverwaltungsamts abschließend pflichtgemäß auszuüben (BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 10).
II. Gemäß § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegen humanitäre Gründe i.S.d. § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG insbesondere vor, wenn 1. die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist, 2. ein minderjähriges lediges Kind betroffen ist, 3. Leib, Leben oder Freiheit des Ehegatten, des minderjährigen ledigen Kindes oder der Eltern eines minderjährigen Ausländers im Aufenthaltsstaat ernsthaft gefährdet sind oder 4. der Ausländer, der Ehegatte oder das minderjährige ledige Kind oder ein Elternteil eines minderjährigen Ausländers schwerwiegend erkrankt oder pflegebedürftig im Sinne schwerer Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten ist oder eine schwere Behinderung hat. Die in den Ziffern 1. bis 4. aufgeführten Sachverhalte umschreiben das Merkmal „humanitäre Gründe“ nur beispielhaft und nicht abschließend (
BT-Drs. 19/2438, S. 22). Selbige können in der Person sowohl des subsidiär Schutzberechtigten als auch seiner Familienangehörigen vorliegen. Der Feststellung ihres (Nicht-)Vorliegens hat eine umfassende Würdigung der Umstände des konkreten Einzelfalles vorauszugehen.
Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft ist gemäß § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unmöglich, wenn eine Familienzusammenführung in einem Drittstaat objektiv unmöglich oder dem subsidiär Schutzberechtigten oder den Familienangehörigen subjektiv unzumutbar ist (
BT-Drs. 19/2438, S. 22). Im Lichte des Zwecks des § 36a AufenthG, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Einklang mit den stark belasteten Integrationskapazitäten der Aufnahmegesellschaft auszugestalten (
BT-Drs. 19/2438, S. 15), aber auch der Rechtsprechung des EGMR (EGMR, Urt. v. 09.07.2021 - 6697/18 Rn. 153 ff., 179) und des BVerfG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84 - BVerfGE 76, 1, 69 f.; BVerfG, Beschl. v. 20.03.2018 - 2 BvR 1266/17 Rn. 16) ist das Merkmal in Bezug auf Ehegatten vorbehaltlich einzelfallbezogener Besonderheiten als erfüllt anzusehen, wenn jene im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für einen Zeitraum von zwei Jahren oder länger räumlich getrennt leben (BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 20). Die Erheblichkeit der Dauer der Trennung der Familienangehörigen ist in aller Regel ausgehend von dem Asylersuchen des im Bundesgebiet subsidiär Schutzberechtigten zu bestimmen (vgl.
BT-Drs. 19/2438, S. 22; BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 20).
III. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG muss für den Familiennachzug zu einem Ausländer ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels zudem in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Die Anwendung des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG und des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist nicht generell spezialgesetzlich, insbesondere nicht durch § 36a Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 AufenthG, ausgeschlossen. Jedoch kann gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG besitzt, von den Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abgesehen werden. Nach § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von diesen Voraussetzungen abzusehen, wenn 1. der im Zuge des Familiennachzugs erforderliche Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Zuerkennung subsidiären Schutzes gestellt wird und 2. die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Staat, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist und zu dem der Ausländer oder seine Familienangehörigen eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist. Gemäß § 36a Abs. 5 AufenthG findet § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG keine Anwendung. Wegen des Ausschlusses des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG bedarf es im Rahmen von Anträgen auf Gewährung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten einer Zurverfügungstellung ausreichenden Wohnraums und der Sicherung des Lebensunterhalts daher auch dann nicht, wenn diese Anträge nach Ablauf der Dreimonatsfrist gestellt werden. Voraussetzung für einen solchen Dispens ist indes nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG, dass die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft nicht ausnahmsweise in einem Staat möglich ist, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist und zu dem der Ausländer oder seine Familienangehörigen eine besondere Bindung haben (BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 25).
IV. Gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG in der Regel ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde.
1. Eine Ehe wurde nicht bereits vor der Flucht geschlossen, wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde (BVerwG, Urt. v. 17.12.2020 - 1 C 30/19 Rn. 14 bis 19 - BVerwGE 171, 103; BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 30; zur Verfassungskonformität von § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG BVerwG, Urt. v. 27.04.2021 - 1 C 45/20 (Buchholz 402.242 § 36a AufenthG Nr 2, Rn. 15 bis 29) und 1 C 50/20 Rn. 14 bis 27.
2. Völker-, unions- oder verfassungsrechtliche Gewährleistungen, insbesondere Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 3 Abs. 1, 9 Abs. 1 Satz 1 und 18 Abs. 1 Satz 1 KRK sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG, oder eine tatsächliche einzelfallbezogene Atypik können Veranlassung geben, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG in Betracht zu nehmen.
Ist den Ehegatten eine (Wieder-)Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des Nachzugswilligen möglich und zumutbar, so übersteigen Wartezeiten von fünf Jahren bis zu einem Nachzug in das Bundesgebiet vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles noch nicht das verfassungsrechtlich hinzunehmende Höchstmaß. Scheidet die Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des nachzugswilligen Ehegatten demgegenüber auf unabsehbare Zeit aus, so liegt ohne Hinzutreten besonderer, eine Verkürzung oder Verlängerung der Trennungszeiten bewirkender Umstände des Einzelfalles eine Ausnahme von dem Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG regelmäßig bereits bei einer mehr als vierjährigen Trennung von dem Ehegatten vor (BVerwG, Urt. v. 27.04.2021 - 1 C 45/20 Rn. 32 - Buchholz 402.242 § 36a AufenthG Nr 2; BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 33). Für den Beginn der Trennungszeit ist auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylersuchens des subsidiär Schutzberechtigten abzuheben (vgl.
BT-Drs. 19/2438, S. 22). Ihre Dauer ist in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz oder – in Ermangelung einer solchen – im Zeitpunkt der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts zu beurteilen (BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 34).
Die Regelausschlussgründe des § 36a Abs. 3 AufenthG sind dazu zu dienen bestimmt, einen Familiennachzug, der aus überwiegenden schutzwürdigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland (
BT-Drs. 19/2438, S. 24) als in der von dem Gesetzgeber vorgefundenen Situation nicht angezeigt erscheint, regelhaft auszuschließen. Wegen des hohen Gewichts des Regelausschlusses in § 36a Abs. 3 AufenthG bedingt die Feststellung besonderer Umstände des Einzelfalles, die eine Verkürzung der von den Ehegatten hinzunehmenden Trennungszeit gebieten können, eine Beschränkung auf solche Sachverhalte, die spezifisch ehe- oder familienbezogen und zudem bei einer wertenden Gesamtschau von einem Gewicht oder einer Atypik sind, welche den Regelausschluss schon vor Ablauf der den Eheleuten zuzumutenden Trennungszeit im konkreten Einzelfall zurücktreten lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2021 - 1 C 45/20 LS. 2 und Rn. 31 - Buchholz 402.242 § 36a AufenthG Nr 2; BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 LS. 1 und 2 sowie Rn. 33). Hierzu zählen die Lebensunterhaltssicherung und das Vorhalten von Wohnraum durch den subsidiär Schutzberechtigten nicht (BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 LS. 2 und Rn. 35 ff.). Demgegenüber mögen zu solchen Umständen etwa schwerwiegende Erkrankungen des Ausländers oder seines Ehegatten zu rechnen sein, die ein Angewiesensein des Erkrankten gerade auf den Beistand des anderen Ehegatten begründen. Die Annahme besonderer Umstände des Einzelfalles und damit eine Zusammenführung der Ehegatten vor Ablauf der grundsätzlich noch als zumutbar zu erachtenden Trennungszeit wird indes nur veranlasst sein, wenn die Folgen der schwerwiegenden Erkrankung so ungewöhnlich und groß sind, dass im Hinblick auf den Zweck der Nachzugsvorschriften, die Herstellung und Wahrung der Familieneinheit zu schützen, die Verweisung auf die an sich zumutbare Trennungszeit schlechthin unvertretbar ist. Dies wird nur der Fall sein, wenn entweder der im Bundesgebiet lebende subsidiär Schutzberechtigte oder sein im Ausland lebender Ehegatte allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann und auf die Gewährung von familiärer Lebenshilfe gerade durch den Ehegatten und gerade im Bundesgebiet angewiesen ist. Die Erkrankung und das Angewiesensein auf den Beistand des Ehegatten sind durch eine Bescheinigung nachzuweisen, die den sich in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG widerspiegelnden Anforderungen der Rechtsprechung an die Aussagekraft einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung genügt (BVerwG, Urt. v. 24.10.2024 - 1 C 17/23 Rn. 43).