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Anmerkung zu:BVerwG 6. Senat, Urteil vom 24.04.2024 - 6 C 2/22
Autor:Carsten Hahn, RiBVerwG
Erscheinungsdatum:21.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 42 VwGO, § 161 VwGO, Art 1 GG, Art 13 GG, Art 104 GG, Art 10 GG, Art 3 GG, § 113 VwGO, Art 11 GG, § 35 TKG 2004, Art 2 GG, Art 19 GG
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 21/2024 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Hahn, jurisPR-BVerwG 21/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Qualifizierter Grundrechtseingriff als Voraussetzung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses in den Fällen sich typischerweise kurzfristig erledigender Maßnahmen



Leitsätze

1. Das als Sachurteilsvoraussetzung der Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts ist in den Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses anerkannt. Darüber hinaus kommt in den Fällen der sich typischerweise kurzfristig erledigenden Maßnahmen, in denen eine Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren nur im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage möglich ist, ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse lediglich bei qualifizierten Grundrechtseingriffen in Betracht.
2. Ein das Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei folgenlos erledigten Maßnahmen rechtfertigender qualifizierter Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) setzt typischerweise voraus, dass das individuelle Verhalten, welches mangels spezieller Grundrechtsgarantien nur dem Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG unterfällt, eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzt.



A.
Problemstellung
Das für die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geforderte berechtigte Interesse liegt nach ständiger Rechtsprechung typischerweise in den Fällen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses vor. Eine weitere grundsätzlich anerkannte Fallgruppe des Fortsetzungsfeststellungsinteresses betrifft Verwaltungsakte, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass Rechtsschutz in der Hauptsache nicht erlangt werden kann. Nicht abschließend geklärt war bisher, ob es sich bei der typischerweise kurzfristigen Erledigung der Maßnahme um eine hinreichende Voraussetzung für das Fortsetzungsfeststellungsinteresse handelt oder daneben das Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs zu fordern ist. Diese Rechtsfrage musste das BVerwG nunmehr in einem polizeirechtlichen Verfahren entscheiden.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Mit Bescheid vom 17.04.2019 ordnete das Polizeipräsidium Dortmund gegenüber dem auswärts wohnenden Kläger ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot für im Einzelnen bezeichnete Bereiche des Gebiets der Stadt Dortmund an. Das auf § 34 Abs. 2 PolG NRW gestützte Verbot galt für die Zeit von 10.00 Uhr bis 20.00 Uhr am 27.04.2019. Für den Fall einer Zuwiderhandlung wurde dem Kläger ein Zwangsgeld angedroht. Zur Begründung des Betretungs- und Aufenthaltsverbots verwies das Polizeipräsidium auf die an dem genannten Tag um 15.30 Uhr angesetzte Begegnung der ersten Fußballbundesliga zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 („Revierderby“) und führte u.a. aus, der Kläger sei als „Capo“ der gewaltbereiten Fanszene zuzurechnen. Aufgrund seines im Zusammenhang mit Fußballgroßveranstaltungen bisher gezeigten Verhaltens sei damit zu rechnen, dass er im Umfeld der genannten Begegnung Straftaten begehen werde.
Die Klage, mit der der Kläger die Feststellung begehrte, dass das gegen ihn ausgesprochene Betretungs- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig gewesen ist, blieb vor dem Verwaltungsgericht ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht wies die Berufung des Klägers mit der Begründung zurück, der Kläger habe kein berechtigtes Interesse analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des bereits vor Klageerhebung erledigten Verwaltungsakts.
II. Das BVerwG hat die Revision des Klägers zurückgewiesen und die Rechtsauffassung der Vorinstanzen bestätigt, dass der Kläger kein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts habe.
1. Einleitend begründet das BVerwG, weshalb die drei „klassischen“ Fallgruppen des Fortsetzungsfeststellungsinteresses hier im Ergebnis nicht einschlägig sind: Für die Annahme einer Wiederholungsgefahr sei nicht nur die konkrete Gefahr erforderlich, dass künftig ein vergleichbarer Verwaltungsakt erlassen werde. Darüber hinaus müssten die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sein. An beiden Voraussetzungen fehle es hier. Denn der Kläger habe selbst vorgetragen, sich aufgrund der Geburt seines Kindes im November 2018 aus seiner Funktion als „Capo“ zurückgezogen zu haben. Zudem habe der Beklagte erklärt, mit Blick auf die Wohlverhaltensperiode des Klägers allein aufgrund vergangener Vorfälle keine weiteren vergleichbaren Maßnahmen gegen diesen zu ergreifen. Aus dem Vortrag des Klägers folge auch kein rechtlich erhebliches Rehabilitationsinteresse. Ein polizeiliches Aufenthaltsverbot habe nicht schon generell eine stigmatisierende Wirkung. Ein Ausnahmefall, in dem sich aus der Begründung des konkreten Bescheids eine Stigmatisierung des Klägers ergeben könnte, liege jedenfalls mangels einer Außenwirkung nicht vor. Eine Präjudizwirkung der beantragten Feststellung für einen angestrebten Staatshaftungsprozess habe der Kläger nicht geltend gemacht.
2. Hieran anschließend wendet sich das BVerwG der im Zentrum des Verfahrens stehenden Frage zu, ob sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse auf den Gesichtspunkt der kurzfristigen Erledigung des umstrittenen Aufenthalts- und Betretungsverbots stützen lässt. Diese weitere Fallgruppe betreffe solche Verwaltungsakte, die sich typischerweise so kurzfristig erledigten, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend sei dabei, dass sich die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergebe. Dies sei hier der Fall, weil der Zeitraum, für den sich das Betretungs- und Aufenthaltsverbot Geltung beigemessen habe, offensichtlich zu kurz gewesen sei, um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in der Hauptsache zu erlangen. Die Möglichkeit eines vorläufigen Rechtsschutzes reiche mit Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG nicht aus.
a) Das BVerwG führt rechtsgrundsätzlich aus, bei der Feststellung, die angegriffene Maßnahme erledige sich typischerweise so kurzfristig, dass sie regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden kann, handle es sich nicht um eine hinreichende, sondern nur um eine notwendige Voraussetzung für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Sinne dieser Fallgruppe. Darüber hinaus müsse die weitere Voraussetzung eines qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen bzw. schwerwiegenden) Grundrechtseingriffs erfüllt sein. Zu diesem Rechtssatz gelangt das BVerwG durch die Auslegung des einfachrechtlichen Verwaltungsprozessrechts:
Aus dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO und dem systematischen Zusammenhang mit § 42 VwGO ergebe sich, dass die Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise für die Überprüfung erledigter Verwaltungsakte in Anspruch genommen werden könnten. Dies spreche dagegen, das Erfordernis einer typischerweise kurzfristigen Erledigung der Maßnahme als hinreichende Voraussetzung für das Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzusehen. Der Verzicht auf die Voraussetzung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs hätte in Regelungsbereichen, die – wie insbesondere im Polizeirecht – durch Maßnahmen mit typischerweise nur kurzer Geltungsdauer geprägt werden, im Ergebnis zur Folge, dass die in § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geregelte Sachurteilsvoraussetzung des berechtigten Interesses auch dann erfüllt wäre, wenn sich das mit der Fortsetzungsfeststellungsklage verfolgte Anliegen in der bloßen Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts erschöpfe. Da jeder belastende Verwaltungsakt zumindest in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG eingreife, würde das prozessuale Erfordernis eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses insoweit praktisch leerlaufen.
Das BVerwG hebt weiter hervor, dass die bei einem Verzicht auf die Voraussetzung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs eintretende Folge, dass im Bereich polizeilicher oder sonstiger Maßnahmen, die sich typischerweise kurzfristig erledigen, regelmäßig bereits die Geltendmachung eines einfachen Klärungsinteresses als Sachurteilsvoraussetzung ausreichte, auch nicht der in den §§ 42 Abs. 2 und 113 VwGO zum Ausdruck kommenden Ausrichtung auf den Individualrechtsschutz entspräche, der grundsätzlich nicht der objektiven Verwaltungskontrolle, sondern der Durchsetzung materieller subjektiv-öffentlicher Rechte diene. Schließlich verweist das BVerwG auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, demzufolge nach Erledigung der Hauptsache grundsätzlich nur noch nach billigem Ermessen über die Kosten zu entscheiden ist. Der praktische Anwendungsbereich der Vorschrift und damit der vom Gesetzgeber angestrebte Entlastungseffekt wäre deutlich eingeschränkt, wenn bei allen Maßnahmen, die sich typischerweise kurzfristig erledigen, regelmäßig schon das Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit zur Fortsetzung des Prozesses mit abschließendem Sachurteil führen würde.
b) Das Ergebnis seiner Auslegung des Verwaltungsprozessrechts sieht das BVerwG durch die in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes und die hierzu ergangene Rechtsprechung des BVerfG nicht in Frage gestellt. Danach sei der Rechtsweg nicht nur bei aktuell anhaltenden Rechtsverletzungen, sondern grundsätzlich auch bei solchen garantiert, die in der Vergangenheit erfolgt seien, allerdings unter dem Vorbehalt eines darauf bezogenen Rechtsschutzbedürfnisses. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes sei es grundsätzlich vereinbar, wenn die Fachgerichte ein Rechtsschutzinteresse nur so lange als gegeben ansähen, wie ein gerichtliches Verfahren dazu dienen könne, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gebiete darüber hinaus, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, allerdings in tatsächlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe zu eröffnen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen könne. Hingegen gewährleiste Art. 19 Abs. 4 GG nicht, dass die Gerichte generell auch dann noch weiter in Anspruch genommen werden könnten, um Auskunft über die Rechtslage zu erhalten, wenn damit aktuell nichts mehr bewirkt werden könne. Dies diene auch der Entlastung der Gerichte, die damit Rechtsschutz insgesamt für alle Rechtsschutzsuchenden schneller und effektiver gewähren könnten. Ebenso wie das einfachrechtliche Verwaltungsprozessrecht garantiere auch das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz dem Bürger keine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung, sondern treffe eine Systementscheidung für den Individualrechtsschutz.
Das BVerwG schließt aus den von ihm herangezogenen Entscheidungen des BVerfG, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht gebietet, bei allen Maßnahmen, die in tatsächlicher Hinsicht überholt sind, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung zu eröffnen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann. Vielmehr setze das von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geforderte berechtigte Interesse auch nach der Rechtsprechung des BVerfG weiter voraus, dass die angegriffene Maßnahme zu einem gewichtigen Grundrechtseingriff führe.
c) Europarechtliche Vorgaben verlangen nach Ansicht des BVerwG ebenfalls nicht, dass das Fortsetzungsfeststellungsinteresse in allen Fällen einer typischerweise kurzfristigen Erledigung der angegriffenen Maßnahme unabhängig von dem Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs bejaht werden müsste. Der unionsrechtliche Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 47 GRC) finde im konkreten Fall mangels eines Bezugspunkts zum Unionsrecht schon keine Anwendung. Unabhängig davon begründe dieser Grundsatz keine Verpflichtung, eine Fortsetzung der gerichtlichen Kontrolle nach Erledigung des Eingriffs unabhängig von einem rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Nutzen für den Kläger allein unter dem Gesichtspunkt eines abstrakten Rechtsklärungsinteresses vorzusehen. Weiter gehende Anforderungen ergäben sich auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK oder Art. 13 EMRK. Soweit der EGMR eine Verletzung von Art. 13 EMRK für möglich halte, wenn innerstaatliche Gerichte es ablehnten, in der Sache über die Rüge einer Konventionsverletzung bei erledigten Maßnahmen zu entscheiden, beschränke sich dies auf besonders schwerwiegende Eingriffe wie z.B. Diskriminierungen im Rahmen von Identitätskontrollen aufgrund ethnischer Merkmale („Racial Profiling“).
d) Weiter erwägt das BVerwG, ob von der Voraussetzung des qualifizierten Grundrechtseingriffs wegen der Schwierigkeit abgesehen werden muss, verallgemeinerungsfähige Kriterien für die Prüfung dieser Voraussetzung zu finden. Es verneint dies unter Hinweis auf die Möglichkeit, der Rechtsprechung des BVerfG als grobe, nicht abschließende Orientierungshilfe einige Leitlinien für die im jeweiligen Einzelfall erforderliche Abgrenzung zu entnehmen.
Danach müsse ein Rechtsschutzbegehren zur nachträglichen gerichtlichen Überprüfung jedenfalls immer dann zulässig sein, wenn eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) infrage stehe. Als schwerwiegend seien darüber hinaus solche Grundrechtseingriffe anzusehen, die das GG selbst – wie in den Fällen der Art. 13 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 und 3 GG – unter Richtervorbehalt gestellt habe. Auch dem von der Telekommunikationsüberwachung – als erheblicher Eingriff in die durch Art. 10 GG geschützte Rechtsposition – Betroffenen müsse eine nachträgliche Kontrolle des bereits beendeten und nach der StPO unter einem gesetzlichen Richtervorbehalt stehenden Eingriffs möglich sein. Ebenso müsse die Möglichkeit der nachträglichen Kontrolle eines bereits beendeten Eingriffs bestehen, wenn der Betroffene ein am Maßstab einfachen Rechts so eklatant fehlerhaftes Vorgehen eines Hoheitsträgers geltend machen könne, dass objektive Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG) naheliege. Hinsichtlich anderer Grundrechte sei bei der Beurteilung der Eingriffsintensität nach der Art des Eingriffs zu differenzieren. Im Rahmen der Einzelfallwürdigung sei – der Ermittlung des durch Art. 19 Abs. 2 GG garantierten Wesensgehalts des jeweiligen Grundrechts vergleichbar – zum einen dessen besondere Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte zu berücksichtigen und zum anderen zu bewerten, inwieweit die fragliche Maßnahme die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung in dem durch das Grundrecht erfassten Lebensbereich beschränke.
Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sieht das BVerwG nur ausnahmsweise als so gewichtig an, dass sie in dem Fall ihrer Erledigung die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses rechtfertigen. Der weit gefasste Schutzbereich erfordere im vorliegenden Zusammenhang eine sachgerechte Eingrenzung, damit das Kriterium des berechtigten Interesses in § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht leerlaufe. Ein das Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei folgenlos erledigten Maßnahmen rechtfertigender qualifizierter Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG setze deshalb typischerweise voraus, dass das individuelle Verhalten, welches mangels spezieller Grundrechtsgarantien nur dem Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG unterfalle, eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitze. Von Bedeutung könne in diesem Zusammenhang insbesondere auch der Kontext der Maßnahme sein, etwa wenn dieser durch weitere Grundrechtseingriffe erheblichen Gewichts geprägt sei.
e) Mit Blick auf die insoweit abweichende Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts sieht sich das BVerwG abschließend zu der Klarstellung veranlasst, dass seine Auffassung, das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung bestehe in der Konstellation der sich typischerweise kurzfristig erledigenden Maßnahmen nur bei qualifizierten Grundrechtseingriffen, der Rechtsprechung sämtlicher Senate einschließlich des 8. Revisionssenats des BVerwG entspreche. Letzterer hatte zuvor auf eine mit Beschluss des erkennenden 6. Revisionssenats vom 29.11.2023 gerichtete Anfrage hin klargestellt, dass sich sein Urteil vom 27.01.2021 (8 C 3/20 - BVerwGE 171, 242), das die Klage einer Gewerkschaft auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Bewilligung von Sonntagsarbeit betraf, nicht auf die Annahme stütze, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bestünde jenseits der Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitations- und des Präjudizinteresses bereits bei typischerweise kurzfristiger Erledigung der angegriffenen Maßnahme, ohne dass zugleich ein qualifizierter Grundrechtseingriff vorliegen müsste (BVerwG, Beschl. v. 29.01.2024 - 8 AV 1/24).
3. In der Subsumtion bestätigt das BVerwG die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts, dass die für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses in der hier in Rede stehenden Fallgruppe der typischerweise kurzfristigen Erledigung der Maßnahme bestehende weitere Voraussetzung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs nicht erfüllt ist.
Das auf die Innenstadt Dortmunds bezogene Aufenthalts- und Betretungsverbot habe nicht den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 11 GG auf Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet berührt. Auch habe jedenfalls in Bezug auf den auswärts wohnenden Kläger kein Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vorgelegen. Aufenthalts- und Betretungsverbote auf polizeirechtlicher Grundlage, die sich üblicherweise auf einen örtlich eng begrenzten Bereich bei einer auf wenige Stunden oder Tage beschränkten Geltungsdauer bezögen, seien jedenfalls nicht generell als Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG anzusehen. Der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG habe hier mangels einer gesteigerten, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbaren Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung des Klägers kein solches Gewicht, dass die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) es gebieten würde, die Rechtmäßigkeit des Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen, obwohl dieser tatsächlich nicht mehr fortwirke. Das räumlich auf Teile des Gebiets der Stadt Dortmund und zeitlich auf eine Dauer von 10 Stunden beschränkte Aufenthalts- und Betretungsverbot habe lediglich die Möglichkeiten zur Gestaltung der Freizeit des auswärts wohnenden Klägers und der Erledigung seiner alltäglichen Geschäfte beeinträchtigt. Auf subjektive Gesichtspunkte wie etwa den gesteigerten Erlebniswert der Fußballbegegnung und ihrer Begleitveranstaltungen gerade für den Kläger könne nicht abgestellt werden. Um den Grundsatz, dass die Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise für die Überprüfung erledigter Verwaltungsakte in Anspruch genommen werden können, nicht zu unterlaufen, sei vielmehr ein objektiver Maßstab anzulegen. Die polizeiliche Maßnahme habe auch nicht in einem durch weitere Grundrechtseingriffe erheblichen Gewichts geprägten Gesamtkontext gestanden.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Die genannten Fallgruppen des Fortsetzungsfeststellungsinteresses sind nicht abschließend. Das BVerwG hat es z.B. für möglich gehalten, dass ein berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse auch dann besteht, wenn die Feststellung für ein anderes Rechtsverhältnis, insbesondere ein anderes (zivilrechtlichen) Verfahren vorgreiflich sein kann. Es muss sich jedoch um eine Vorfrage handeln, deren rechtskräftige Klärung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Rechtsposition der Klägerin in dem Zivilrechtsstreit verbessern könnte (BVerwG, Beschl. v. 14.12.2018 - 6 B 133/18 Rn. 15 - Buchholz 442.066 § 47 TKG Nr 5). In vergleichbarer Weise hat das BVerwG ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse wegen der präjudiziellen Wirkung der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer abgelaufenen Erlaubnis für zukünftige Erlaubnisse in Betracht gezogen (BVerwG, Urt. v. 02.11.2017 - 7 C 26/15 Rn. 20 f.). In einem besonders gelagerten Einzelfall ergab sich das Fortsetzungsfeststellungsinteresse aus den Maßgaben, die das BVerfG im Rahmen der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebotenen Auslegung einer bestimmten Regelung (§ 35 Abs. 5 Sätze 2 und 3 TKG a.F.) vorgegeben hatte (BVerwG, Urt. v. 29.03.2017 - 6 C 1/16 Rn. 30 - BVerwGE 158, 301; BVerwG, Urt. v. 29.11.2017 - 6 C 57/16 Rn. 18 - DVBl 2018, 447 und BVerwG, Urt. v. 29.11.2017 - 6 C 58/16 Rn. 19).
II. In einzelnen instanzgerichtlichen Entscheidungen (vgl. VGH München, Urt. v. 12.01.2012 - 10 BV 10.2271 Rn. 70) wird schon das Vorliegen eines „tiefgreifenden“ Grundrechtseingriffs als hinreichende Voraussetzung für das Fortsetzungsfeststellungsinteresse angesehen. Das BVerwG ist dem nicht gefolgt, sondern verlangt zusätzlich, dass es sich um einen Eingriff handelt, der sonst wegen seiner typischerweise kurzfristigen Erledigung regelmäßig keiner gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnte (BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 - 8 C 14/12 Rn. 29 ff. - BVerwGE 146, 303). Ein schwerwiegender Grundrechtseingriff kann allerdings wegen einer diskriminierenden Wirkung ein Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen indizieren, das ein von Art. 19 Abs. 4 GG umfasstes Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung der Rechtswidrigkeit auch dann begründet, wenn die Maßnahme erledigt ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 05.12.2001 - 2 BvR 527/99, 1337, 1777/00 - BVerfGE 104, 220, 235 in Bezug auf die Anordnung von Abschiebungshaft, die schwerwiegend in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eingreift).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das Berufungsgericht hatte im vorliegenden Fall angenommen, nach der Rechtsprechung des 8. Revisionssenats des BVerwG sei die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses nicht auf Fälle gewichtiger Grundrechtseingriffe beschränkt, sondern die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG verlange, dass der Betroffene jeden Eingriff in eine Rechtsposition in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen lassen könne, wenn sich die kurzfristige Erledigung aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergebe (OVG Münster, Urt. v. 07.12.2021 - 5 A 2000/20 Rn. 59 ff.). Auch andere Instanzgerichte hatten die genannte Rechtsprechung in dieser Weise verstanden (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 17.11.2022 - 7 A 10719/21 Rn. 40 f.). Diese Unsicherheiten sind nunmehr beseitigt.



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