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Anmerkung zu:BGH 5. Strafsenat, Urteil vom 24.04.2024 - 5 StR 510/23
Autor:Dr. Svenja Raube, LL.M., Akademische Rätin a.Z.
Erscheinungsdatum:14.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 224 StGB, § 25 StGB, § 24 StGB
Fundstelle:jurisPR-StrafR 19/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Raube, jurisPR-StrafR 19/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Tötungsvorsatz: äußerst gefährliche Gewalthandlung als wesentliches Beweisanzeichen in der Gesamtschau vorsatzkritischer Indizien und die Vorsatzzurechnung bei mittäterschaftlicher Begehungsweise



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit der Tatausführung stellt auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar. Bei einem Messerstich in den Oberschenkel kann es sich schon für sich genommen um eine äußerst gefährliche Gewalthandlung handeln, wobei es auf die Umstände des Einzelfalles, insbesondere auf die Art der Angriffsweise ankommt.
2. Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden muss, werden vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sich diese nicht eigens vorgestellt hat; ebenso ist er für jede Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn er mit der Handlungsweise seines Tatgenossen einverstanden oder sie ihm zumindest gleichgültig war.



A.
Problemstellung
Die Heranziehung objektiv in hohem Maße gefährlicher Handlungen als Beweisanzeichen durch die Rechtsprechung bleibt ein zentraler Diskussionsgegenstand bei der Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit. Dies verdeutlichen nicht nur prominent gewordene Beispiele der jüngeren Rechtsprechung, wie etwa die sog. „Raser-Fälle“, die Fälle des Herunterstoßens von einer Bahnsteigkante oder jüngst das Stoßen aus einem Fenster im zweiten Obergeschoss (BGH, Beschl. v. 05.09.2024 - 6 StR 340/24). Von besonders hoher praktischer Bedeutung unter diesen Entscheidungen sind daneben immer wieder äußerst gefährliche Gewalthandlungen, die der BGH als wesentliches auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen auf beiden Vorsatzebenen erachtet (BGH, Urt. v. 19.04.2016 - 5 StR 498/15 - NStZ-RR 2016, 204; BGH, Urt. v. 13.07.2016 - 1 StR 128/16 - NStZ 2016, 670, 671). Die vorliegende Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf einen Fall, in dem das Opfer zwar lebensgefährliche Verletzungen erlitten hat, die Tathandlung jedoch nicht auf eine äußerst sensible Körperregion oder lebenswichtige Organe gezielt hat. Der BGH hat die Entscheidung zum Anlass genommen, seine Rechtsprechung zu bekräftigen, wonach es bei der Würdigung vorsatzkritischer Umstände stets auf die Umstände des Einzelfalls ankommen soll.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegenstand der Entscheidung war eine nächtliche Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger in einer Grünanlage, in der sich beide am Tag der Tat jeweils in Begleitung mehrerer Personen aufhielten. Nachdem es zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger, die bereits zuvor wiederholt in verbale Auseinandersetzungen miteinander geraten waren, erneut zu einem verbalen Disput gekommen war, verließ der Angeklagte den Park zunächst allein, kehrte jedoch etwa 15-30 Minuten später in Begleitung zweier weiterer Personen zurück, um sich – „vor allem“ wegen der verbalen Auseinandersetzung – am Nebenkläger zu rächen. Hierzu rannten der Angeklagte und seine Begleiter jeweils mit Messern in der Hand aus einem Gebüsch, um den Nebenkläger zu suchen. Dieser saß zu diesem Zeitpunkt mit dem Rücken zum Gebüsch auf einer Treppe und bemerkte die herannahenden Angreifer zunächst nicht. Als der Angeklagte und seine beiden Begleiter den Nebenkläger erreichten, der „in der Zwischenzeit schnell aufgestanden war“, stach der Angeklagte dem Nebenkläger tatplangemäß mit einem Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 20 cm mit einer solchen Wucht in den Oberschenkel, dass die Klinge den Oberschenkel vollständig durchdrang. Fast zeitgleich führten die beiden anderen Angreifer Stich- und Stoßbewegungen in Richtung der Beine und des Oberkörpers des Nebenklägers aus. Allen drei Angreifern war bewusst, dass die Messerstiche potenziell lebensgefährliche Verletzungen bei dem Nebenkläger hervorrufen konnten. Nach ein paar Minuten, in denen die Angreifer nicht miteinander sprachen, erhob der Nebenkläger „wahrscheinlich, wenngleich nicht feststellbar“ sein Fahrrad zu Verteidigungszwecken, woraufhin der Angeklagte und seine Begleiter flohen. Der Nebenkläger geriet infolge der Verletzungen an Oberschenkel und Brustkorb in akute Lebensgefahr.
Die zentrale Frage für das mit der Entscheidung zunächst betraute LG Kiel lag in der Bewertung des Tötungsvorsatzes des Angeklagten, der seine Tatbeteiligung in Abrede gestellt hatte. Das Landgericht verneinte einen solchen Tötungsvorsatz und verurteilte den Angeklagten lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung in mittäterschaftlicher Begehung (§§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 4, 5, 25 Abs. 2 StGB). Dieses Ergebnis begründete das Landgericht auf der Grundlage einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände und wertete unter anderem als vorsatzkritischen Umstand, dass der Angeklagte „nur“ Messerstiche in die Beinregion gesetzt und es sich um eine Spontantat gehandelt habe. Dabei ließ das Landgericht offen, ob es dem Angeklagten auch am Wissenselement gefehlt habe und er schon die Gefahr einer Tötung nicht erkannt, oder jedenfalls darauf vertraut habe, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten (LG Kiel, Urt. v. 03.07.2023 - 13 KLs 588 Js 51074/22).
Auf die Revision des Nebenklägers hob der BGH das Urteil auf und verwies die Sache mit drei Argumenten zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück: Erstens habe das Landgericht bei seiner Prüfung des Tötungsvorsatzes aus dem Blick verloren, dass der Stich des Angeklagten in den Oberschenkel bereits für sich genommen eine äußerst gefährliche Gewalthandlung habe darstellen können. Zweitens habe das Landgericht außer Betracht gelassen, dass dem Angeklagten auch die – ebenfalls konkret lebensgefährdenden – Stiche der beiden weiteren Angreifer mittäterschaftlich zuzurechnen gewesen sein könnten. Drittens zog der BGH in Zweifel, dass es sich bei der Tat um eine Spontantat gehandelt habe. So habe sich die Strafkammer nicht mit der naheliegenden Frage auseinandergesetzt, ob einer Spontantat nicht schon der zeitliche Ablauf entgegenstand, da sich der Angeklagte zwischen der verbalen Auseinandersetzung und dem Angriff schließlich für etwa 15 bis 30 Minuten entfernt hatte. Dass der Angeklagte auf das Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut habe, habe das Landgericht auch im Übrigen nicht tragfähig belegt.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Zur Gesamtschau vorsatzkritischer Umstände
Die Entscheidung reiht sich in eine lange Reihe von Entscheidungen des BGH ein, die sich mit der Problematik der Abgrenzung von bedingtem Tötungsvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit befassen. Da sowohl das Wissens- als auch das Willenselement des bedingten Vorsatzes nach der Rechtsprechung durch tatsächliche Feststellungen zu belegen sind, der Vorsatz aber regelmäßig einer unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich ist, ist nach der Rechtsprechung auf der Ebene der Beweiswürdigung eine Gesamtschau aller für das Tatgeschehen in objektiver und subjektiver Hinsicht bedeutsamen – nicht selten ambivalenten – Umstände vorzunehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn allein oder im Wesentlichen aus äußeren Umständen auf die innere Einstellung des Angeklagten zur Tat geschlossen werden kann (BGH, Urt. v. 16.05.2013 - 3 StR 45/13 - NStZ 2013, 581, 582).
Zeitweise vertrat der BGH die Ansicht, den Instanzgerichten keine Vorgaben hinsichtlich des Gewichts der jeweiligen Indizien im Rahmen der Gesamtschau machen zu können. Zugleich behielt sich der BGH vor, Urteile jederzeit wegen Erörterungsmängeln aufzuheben, wenn das Tatgericht wesentliche be- oder entlastende Umstände des Angeklagten, die für die subjektive Tatseite von Bedeutung sind, im Rahmen der Gesamtschau nicht erörtert hatte (vgl. etwa BGH, Urt. v. 14.08.2014 - 4 StR 163/14 - NJW 2014, 3382). Die resultierenden Unsicherheiten führten in der Praxis zu einer gewissen Zurückhaltung der Instanzgerichte bei der Annahme von Tötungsvorsatz – selbst in Fällen offensichtlich lebensgefährlicher Verletzungshandlungen, die das Opfer nur durch glücklichen Zufall überlebt hat (zum Ganzen vgl. Puppe in: NK-StGB, 6. Aufl., § 15 StGB Rn. 96a).
Inzwischen hat der BGH diese Auffassung aufgegeben und ist auf die Linie zurückgekehrt, die der 4. Strafsenat bei seiner Abkehr von einer mit eigenständigem Bedeutungsgehalt versehenen „Hemmschwellentheorie“ eingeschlagen hatte (vgl. m.w.N. BGH, Urt. v. 22.03.2012 - 4 StR 558/11 - BGHSt 57, 183; Puppe in: NK-StGB, 6. Aufl., § 15 StGB Rn. 97). Danach ist eine hohe und anschaulich konkrete Todesgefahr, die der Täter bewusst für das Opfer herbeiführt, kein bloßes Indiz unter anderen, über dessen Gewicht das Tatgericht im Einzelfall entscheiden kann. Vielmehr handelt es sich um „das wesentliche auf Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen“ (BGH, Beschl. v. 26.04.2016 - 2 StR 484/14 - NStZ 2017, 22, 23; BGH, Urt. v. 11.10.2016 - 1 StR 248/16 - NStZ 2017, 25; m.w.N. Puppe, NStZ 2016, 575 ff.). Wenn der BGH auch regelmäßig betont, dass es sich bei einer solchen Lebensgefahr um kein zwingendes Indiz für den Tötungsvorsatz handeln soll (so etwa erneut betont in BGH, Beschl. v. 05.09.2024 - 6 StR 340/24), bedarf die Verneinung des Tötungsvorsatzes in diesen Fällen doch einer besonderen Begründung. Entsprechend soll bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen „naheliegen“, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen (Wissenselement), und – weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt – einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Allerdings können im Einzelfall das Wissens- und/oder das Willenselement fehlen, etwa, wenn dem Täter trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements), oder wenn der Täter trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf das Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut, sofern dieses Vertrauen auf Tatsachen und nicht auf bloßen Hoffnungen beruht (Fehlen des Willenselements) (vgl. BGH, Urt. v. 19.04.2016 - 5 StR 498/15 - NStZ-RR 2016, 204; Puppe, NStZ 2016, 575, 576).
II. Äußerst gefährliche Gewalthandlungen
Dass der BGH die Schwelle zur äußerst gefährlichen Gewalthandlung in dieser Entscheidung vergleichsweise früh überschritten sieht, ist insbesondere vor dem Hintergrund der großen Rolle beachtlich, die diese Einordnung für die weitere Prüfung des Tötungsvorsatzes spielt: Während bei Annahme einer nicht äußerst gefährlichen Gewalthandlungen die Bejahung des bedingten Vorsatzes einer positiven Begründung bedürfte, läge der Tötungsvorsatz bei Annahme einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung nahe und es müssten umgekehrt Umstände beigebracht werden, die das Vorliegen von Tötungsvorsatz entkräften (Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 88d).
1. Die Einordnung des Messerstichs in den Oberschenkel
Die Tatsache, dass der BGH in seiner hiesigen Entscheidung davon ausgeht, dass bereits ein einziger Messerstich in den Oberschenkel für sich genommen eine besonders gefährliche Gewalthandlung habe darstellen können, zeigt, dass sich für den BGH jede schematische Betrachtungsweise bei der Einordnung einer Tat als besonders gefährliche Gewalthandlung verbietet. Allerdings verbleiben Zweifel daran, ob die Umstände des Einzelfalls vorliegend tatsächlich die Annahme einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung nahelegen.
Zweifel an der Einordnung des Messerstichs in den Oberschenkel als äußerst gefährliche Gewalthandlung könnten sich zunächst bei einem Vergleich zur bisherigen Kasuistik des BGH mit Blick auf die hier betroffene Körperregion ergeben. So wurden in der bisherigen Kasuistik zu sog. „scharfer Gewalt“ als äußerst gefährliche Gewalthandlungen etwa Angriffe gegen den Hals eingeordnet (BGH, Urt. v. 09.08.2005 - 5 StR 352/04 - NStZ 2006, 98; BGH, Urt. v. 27.08.2009 - 3 StR 246/09 - NStZ-RR 2009, 372; BGH, Urt. v. 28.01.2010 - 3 StR 533/09 - NStZ-RR 2010, 144; BGH, Urt. v. 19.12.2013 - 4 StR 347/13 - NStZ 2014, 147; NStZ 2022, 40), gegen den Nacken (BGH, Urt. v. 09.08.2005 - 5 StR 352/04 - NStZ 2006, 98, 99), gegen den Kopf (beim Einsatz einer Machete, vgl. BGH, Urt. v. 15.12.2010 - 2 StR 531/10 - NStZ 2011, 210, 211, oder dem Wurf eines Beils aus vier bis fünf Metern, vgl. BGH, Urt. v. 16.07.1980 - 2 StR 127/80 - NStZ 1981, 22, 23), gegen Kopf und Hals (BGH, Urt. v. 14.08.2014 - 4 StR 163/14 - NStZ 2015, 266, 267), den Oberkörper (BGH, Urt. v. 10.06.2009 - 2 StR 103/09 - NStZ-RR 2009, 309), insbesondere den linken oberen Brustkorb (BGH, Beschl. v. 23.04.2003 - 2 StR 52/03 - StV 2004, 75; BGH, Urt. v. 18.01.2007 - 4 StR 489/06 - NStZ 2007, 331, 332) bzw. die Herzregion (BGH, Urt. v. 11.12.2001 - 1 StR 408/01 - NStZ 2002, 541; 2016, 668, 669), den Rücken (BGH, Urt. v. 22.03.2012 - 4 StR 558/11 - BGHSt 57, 183 ff.) und den Bauch (BGH, Urt. v. 21.03.1996 - 5 StR 432/95 - BGHSt 42, 97, 100 f.; BGH, Beschl. v. 26.08.2005 - 3 StR 259/05 - NStZ-RR 2006, 9; BGH, Urt. v. 24.02.2010 - 2 StR 577/09 - NStZ-RR 2010, 214; BGH, Urt. v. 17.07.2013 - 2 StR 176/13 - NStZ-RR 2013, 341). Damit hat der BGH bislang vor allem solche Gewalthandlungen als äußerst gefährlich erachtet, die sich gegen lebenswichtige Organe richteten bzw. äußerst sensible Körperregion betrafen.
Allerdings ergibt sich aus einer näheren Betrachtung der BGH-Rechtsprechung, dass ein alleiniges Abstellen auf die Empfindlichkeit der Körperregion den revisionsrechtlichen Anforderungen an die Begründung des bedingten Tötungsvorsatzes nicht genügt (BGH, Beschl. v. 17.09.2008 - 5 StR 377/08 - NStZ-RR, 2008, 370). So hat der BGH wiederholt festgestellt, dass selbst Gewalthandlungen gegen äußerst sensible Körperregionen, wie etwa in den Herz- und Nierenbereich, nicht automatisch als äußerst gefährliche Gewalthandlungen einzuordnen seien (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 20.11.2018 - 1 StR 560/18 - NStZ 2019, 344). Wenngleich Messerstiche in die Beinregion bislang kein typisches Beispiel äußerst gefährlicher Gewalthandlungen bildeten, hat der BGH überdies auch bereits zuvor die Einordnung jedenfalls zahlreicher Stiche in den Hüft- und Beinbereich als äußerst gefährliche Gewalthandlung für denkbar gehalten (BGH, NStZ-RR 2018, 194); in einer jüngeren Entscheidung betonte er die potenzielle Lebensgefährlichkeit von Schüssen in den Oberschenkel wegen der Gefahr der Verletzung der Oberschenkelschlagader (BGH, Urt. v. 25.04.2018 - 2 StR 428/17 - NStZ-RR 2018, 373, 374).
Entscheidend für die objektive Gefährlichkeit einer Handlung ist mithin nicht die betroffene Körperregion, sondern allein „die Größe bzw. Intensität der vom Täter geschaffenen Gefahr“ (Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 88d), für die es auf die Umstände des Einzelfalls ankommen soll. Diese Umstände des Einzelfalls sollen sich vor allem in der Art und Weise der Gewalthandlung offenbaren (auch gelegentlich als „Angriffsweise“ bezeichnet, vgl. BGH, Beschl. v. 13.08.2013 - 2 StR 180/13 - NStZ 2014, 84; BGH, Beschl. v. 05.09.2024 - 6 StR 340/24). In Fällen „scharfer Gewalt“ berücksichtigt der BGH mit Blick auf die Angriffsweise etwa die Anzahl der Messerstiche, die Abwehr- und Ausweichmöglichkeiten des Opfers (BGH, Urt. v. 30.08.2006 - 2 StR 198/06 - NStZ-RR 2007, 43, 44), ob es sich um eine Stich- oder Schnittbewegung gehandelt hat (BGH, NStZ 2014, 84), ob sich der Angriff in einem hochdynamischen und deshalb unkontrollierbaren Geschehen zutrug (BGH, Beschl. v. 22.04.2009 - 5 StR 88/09 - NStZ 2009, 503; BGH, Urt. v. 15.12.2010 - 2 StR 531/10 - NStZ 2011, 210, 211) und ob der Angriff zielgerichtet erfolgte.
In diese einzelfallorientierte Rechtsprechung reiht sich auch der vorliegende Fall ein: So hebt der 5. Strafsenat zunächst hervor, das Landgericht habe außer Acht gelassen, dass der Messerstich des Angeklagten in den Oberschenkel zu einer akuten Lebensgefahr für den Nebenkläger geführt habe. Da die Lebensgefährlichkeit einer Handlung für sich genommen jedoch kein zwingendes Indiz für Eventualvorsatz ist (vgl. nur Matt/Renzikowski/Safferling, StGB, 2. Aufl. 2020, § 212 Rn. 66), kommt dem sodann folgenden Argument des BGH größeres Gewicht zu, wonach die Art und Weise des Angriffs zu berücksichtigen gewesen sei. Zu Recht stellt der BGH insofern auf die glaubhafte Bekundung des Nebenklägers ab, dass das Messer des Angeklagten auf einer Seite seines Oberschenkels „hinein- und auf der anderen Seite wieder herausgekommen“ sei, und auf die Bekundung eines weiteren Zeugen, dass das Blut aus dem Oberschenkel des Nebenklägers „herausgespritzt“ sei.
Die Position des BGH erscheint bei Betonung des Einzelfalls, insbesondere der besonderen Wucht und Tiefe des hiesigen Stichs nicht unvertretbar. Zugunsten einer Einordnung des Messerstichs als äußerst gefährliche Gewalthandlung hätten sich überdies die Länge der Messerklinge sowie die eingeschränkten Ausweichmöglichkeiten des von drei Angreifern attackierten Nebenklägers hervorheben lassen. Zugleich dürfte es gleichermaßen nachvollziehbare Gründe für das Landgericht gegeben haben, den Stich in den Oberschenkel für sich genommen nicht als äußerst gefährliche Gewalthandlung einzuordnen. Insofern ließe sich hier betonen, dass der Angeklagte nach den Feststellungen nur einen einzigen Messerstich in den Oberschenkel des Nebenklägers gesetzt hat (hinsichtlich der Anzahl der Messerstiche des Angeklagten ist das Urteil allerdings nicht ganz eindeutig, da das Landgericht „Messerstiche in die Beinregion“ des Angeklagten erörtert hat, während der BGH einen einzigen Messerstich geprüft hat (vgl. BGH, Urt. v. 24.04.2024 - 5 StR 510/23 Rn. 11). Ferner hätte sich anführen lassen, dass der Stich des Angeklagten „tatplangemäß“, also zielgerichtet in den Oberschenkel erfolgte. Zweifel an der Einordnung der Tathandlung als äußerst gefährliche Gewalthandlung verbleiben auch bei einem Vergleich dieser Tathandlung mit den in der bisherigen Rechtsprechung als äußerst gefährliche Gewalttaten eingestuften Handlungen, die nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls einen gezielten Stich in den Oberschenkel – wenn dieser auch mit großer Wucht erfolgte – in ihrer abstrakten Gefährlichkeit deutlich übersteigen (vgl. etwa den Einsatz einer Machete gegen den Kopf (BGH, Urt. v. 15.12.2010 - 2 StR 531/10 - NStZ 2011, 210) oder den schnellen Einsatz eines 30 cm langen Küchenmessers gegen den Hals des Opfers in einem dynamischen Geschehen (BGH, Urt. v. 28.04.2021 - 5 StR 500/20 - NStZ 2022, 40).
Vor diesem Hintergrund erscheint zumindest diskutabel, ob es tatsächlich der Stich des Angeklagten allein war, der hier die Annahme einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung zu rechtfertigen vermochte. Die – im Ergebnis zutreffend durch den BGH gerügte – Rechtsfehlerhaftigkeit der Prüfung des Tötungsvorsatzes durch das Landgericht dürfte sich allerdings jedenfalls bei einer Ausweitung des Blicks auf das gesamte Geschehen ergeben.
2. Die Zurechnung der Stiche der Mittäter
Uneingeschränkt überzeugend ist insoweit die zweite und zugleich gewichtigste Rüge des BGH, wonach das Landgericht nicht berücksichtigt habe, dass die Stiche der beiden weiteren Tatbeteiligten dem Angeklagten aufgrund mittäterschaftlicher Begehungsweise zuzurechnen gewesen seien.
An dem mittäterschaftlichen Vorgehen des Angeklagten und der beiden weiteren Beteiligten i.S.v. § 25 Abs. 2 StGB bestand nach den Feststellungen des Landgerichts kein Zweifel. Aus dem arbeitsteiligen Zusammenwirken und den jeweiligen Tatbeiträgen von einigem Gewicht ergab sich eine gemeinschaftliche funktionelle Tatherrschaft der drei Angreifer (vgl. Kudlich in: BeckOK-StGB, 62. Aufl. 01.08.2024, § 25 StGB Rn. 46), ferner lag ein hohes eigenes Tatinteresse des Angeklagten, der für die vorangegangene Auseinandersetzung am Nebenkläger Rache nehmen wollte, nahe. Der subjektiv erforderliche gemeinsame Tatentschluss der Beteiligten, den Nebenkläger mit Messern zu verletzen, ergibt sich eindeutig aus den Feststellungen des Landgerichts; Anhaltspunkte für einen über das gemeinsame Wollen hinausgehenden Exzess bestanden nach dessen Feststellungen nicht.
Ebenso wenig Zweifel dürften an der Einordnung der Messerstiche der beiden Mittäter als äußerst gefährliche Gewalthandlungen bestehen, jedenfalls soweit sie auch in den Brustkorb erfolgten. Wenngleich Einzelheiten über die genaue Wucht und Tiefe der Stiche der beiden Mitangreifer nicht bekannt sind, dürfte eine Vielzahl an Stichen durch zwei Personen über mehrere Minuten in den Brustkorb, bei denen die Gefahr einer Verletzung lebenswichtiger Organe besonders hoch ist und die letztlich tatsächlich zu lebensgefährlichen Verletzungen des Opfers geführt haben, als äußerst gefährliche Gewalthandlungen eingeordnet werden können (vgl. zu einem ähnlichen Fall auch etwa BGH, Urt. v. 17.07.2013 - 2 StR 139/13 - NStZ-RR 2013, 343). Insofern bestand für den Angeklagten jedenfalls bei Gesamtbetrachtung aller Messerstiche eine erkennbare hohe und zudem anschaulich konkrete Lebensgefährlichkeit, wodurch das Vorliegen von Tötungsvorsatz auf beiden Vorsatzebenen nahelag. Überzeugend ist daneben der Hinweis des BGH, dass auch das „vorhersehbar dynamische und unübersichtliche Kampfgeschehen“, das die Kontrollierbarkeit der Situation erschwert und mithin die Gefährlichkeit der Situation zusätzlich erhöht haben dürfte, die Prüfung einer billigenden Inkaufnahme nahegelegt hätte.
Anhaltspunkte dafür, dass besondere Umstände das Vorliegen der kognitiven und voluntativen Vorsatzkomponenten entkräftet hätten, lagen nicht vor. Die kognitive Vorsatzkomponente hätte hier lediglich ein Tatbestandsirrtum des Angeklagten ausschließen können (vgl. Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 88k). Ein solcher wäre in Betracht gekommen, wenn hier allein der Stich des Angeklagten in den Oberschenkel in Rede gestanden hätte und wenn der Angeklagte die potenzielle Lebensgefährlichkeit seines Stichs in den Oberschenkel nicht erkannt hätte. Der BGH hat in einer früheren Entscheidung interessanterweise offengelassen, ob es sich bei der potenziellen Lebensgefährlichkeit einer Oberschenkelverletzung um Spezialwissen handeln könnte (vgl. BGH, Urt. v. 25.04.2018 - 2 StR 428/17 - NStZ-RR 2018, 373, dort im Fall einer Schussverletzung, bei der der Täter unmittelbar nach der Tat darauf hinwies, schließlich „nur auf die Beine des Opfers geschossen zu haben“). Hier blieb für einen Tatbestandsirrtum – nach der Berücksichtigung der Stiche der beiden Mitangreifer – jedoch kein Raum, da die Augenfälligkeit der mit den Stichen verbundenen Lebensgefahr zur leichten kognitiven Erfassbarkeit des Todesrisikos für den Angeklagten führte. Auch für ein tatsachenbasiertes, ernsthaftes Vertrauen auf einen guten Ausgang, das die voluntative Vorsatzkomponente des Angeklagten hätte entkräften können, bestanden nach den Feststellungen des Landgerichts keine Anhaltspunkte.
III. Spontantat
Schließlich hatte das Landgericht hier das Vorliegen einer Spontantat als gegenläufigen vorsatzkritischen Umstand gewertet. Nach der Rechtsprechung kann in Fällen affektiver Erregung, Alkoholisierung oder spontanem Entschluss die realistische Einschätzung einer Gefahrensituation infolge von Unkontrolliertheit und nervlicher Überforderung beeinträchtigt sein; insoweit handelt es sich um ambivalente Beweisanzeichen (BGH, Urt. v. 22.02.2000 - 5 StR 573/99 - NStZ-RR 2000, 165; BGH, Beschl. v. 30.07.2019 - 2 StR 122/19 - NStZ 2020, 288). Ob eine psychische Ausnahmesituation neben einer Beeinträchtigung der Erkenntnisfähigkeit dazu führt, dass der Täter die von seinem Handeln ausgehende Lebensgefahr für das Opfer unzutreffend beurteilt, ist in den schriftlichen Urteilsgründen zu erörtern. Jedenfalls soll in diesen Fällen aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten auf das Vorliegen des voluntativen Vorsatzelements geschlossen werden können (vgl. BGH, Beschl. v. 30.07.2019 - 2 StR 122/19; BGH, Beschl. v. 05.09.2024 - 6 StR 340/24).
Hier verdienen bereits die Zweifel des BGH daran, dass es sich bei der in Rede stehenden Tat des Angeklagten um eine Spontantat gehandelt hat, Zustimmung. So hätte die Strafkammer insbesondere den Umstand erörtern müssen, dass sich der Angeklagte nach der verbalen Auseinandersetzung mit dem Nebenkläger für 15-30 Minuten entfernt hat, bevor er den Nebenkläger angriff. Ferner schließen nach der Rechtsprechung Planung und Überlegungen vor einer Tat das Vorliegen einer Spontantat regelmäßig aus (vgl. etwa BGH, Urt. v. 22.02.2000 - 5 StR 573/99 - NStZ-RR 2000, 165, 166; m.w.N. Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 88p). Dass der Angeklagte die Zeitspanne zwischen seinem Disput mit dem Nebenkläger und dem Angriff auch zur Planung des Angriffs nutzte, zeigen die Feststellungen des Landgerichts, denen zufolge der Angeklagte in dieser Zeit zwei weitere Personen mobilisierte, mit diesen einen Tatplan fasste und sich mit einem Messer ausstattete.
IV. Weitere Vorsatzindikatoren
Als weiteren vorsatzkritischen Umstand hätte sich im Hinblick auf die Willenskomponente auch die Motivationslage des Angeklagten in den Blick nehmen lassen. Der Angeklagte handelte ausweislich der Feststellungen nach der vorangegangenen Auseinandersetzung „vor allem“, um sich an dem Nebenkläger zu rächen; ein Motiv, das der BGH bereits zur Bejahung von Tötungsvorsatz herangezogen hat (bei vorangegangenen wechselseitigen Beleidigungen und Rachsucht vgl. etwa BGH, Urt. v. 23.06.2009 - 1 StR 191/09 - NStZ 2009, 629, 630; BGH, Urt. v. 15.12.2010 - 2 StR 531/10 - NStZ 2011, 210, 211; wohingegen das Motiv des „Denkzettels“ ambivalent bewertet wird, s. im Vergleich BGH, Urt. v. 08.03.1988 - 1 StR 18/88 - NStZ 1988, 361 und BGH, Urt. v. 16.04.2008 - 2 StR 95/08; BGH, Urt. v. 23.06.2009 - 1 StR 191/09 - NStZ 2009, 629, 630). Der Handlungsantrieb des Täters ist allerdings nur insoweit von Bedeutung, als er „Rückschlüsse auf die Stärke des vom Täter empfundenen Tatanreizes und damit auch auf seine Bereitschaft zur Inkaufnahme schwerster Folgen zulässt“, weil der Täter, der mit bedingtem Vorsatz handle, regelmäßig über kein Tötungsmotiv verfüge, sondern einem „anderen Handlungsantrieb“ folge (BGH, Urt. v. 30.11.2005 - 5 StR 344/05 - NStZ-RR 2006, 317, 318; BGH, Beschl. v. 05.09.2024 - 6 StR 340/24).
Nicht als vorsatzkritischen Umstand hat das Landgericht zu Recht gewertet, dass der Angeklagte schließlich vom Nebenkläger abgelassen hat. Während nachträglichen Handlungen oder Erklärungen im Allgemeinen nur eingeschränkte Aussagekraft im Hinblick auf den Vorsatz im Tatzeitpunkt haben dürften (Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 212 Rn. 11), sind in der Rechtsprechung etwa die Herbeiholung von Hilfe oder die Vornahme erfolgstauglicher Wiederbelebungsversuche bereits als Indizien gegen Vorsatz gewertet worden (BGH, Urt. v. 14.08.2014 - 4 StR 163/14 - NJW 2014, 3382). Das bloße Unterlassen weiterer Angriffe kann jedoch nur dann als vorsatzkritischer Umstand gewertet werden, wenn es „einen Rückschluss auf die Maxime des Täters erlaubt, dass das Opfer weiterleben soll“ (so etwa in dem vom BGH entschiedenen Fall, in dem der Täter nach dem Abfeuern von zwei Schüssen die Waffe mit elf Schuss Munition noch in der Hand hatte, m.w.N. Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 88s). Im hiesigen Fall war nach den Feststellungen des Landgerichts noch ungewiss, weswegen der Angeklagte vom Nebenkläger abließ (hierzu sogleich näher unter E.). Insofern war bereits unklar, ob der Angeklagte womöglich bereits davon ausging, den Nebenkläger tödlich verletzt zu haben (vgl. auch BGH, Urt. v. 16.04.2008 - 2 StR 95/08).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Rechtsprechung zur beweiswürdigenden Gesamtschau vorsatzkritischer Umstände bleibt ein schwieriges Feld. Die nicht immer homogene „kasuistische Entscheidungsvielfalt“ der Rechtsprechung ist nicht nur immer wieder in der Literatur, sondern bisweilen auch in der Praxis beklagt worden (m.w.N. Rissing van Saan/Zimmermann, in: LK-StGB, 13. Aufl. 2023, § 212 Rn. 31; Saliger in: NK-StGB, 6. Aufl. 2023, § 212 Rn. 14; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 87c, a.A. Franke, StrFo 2016, 269 ff.). Der Vorwurf, dass die Rechtsprechung es bislang versäumt habe, eindeutige und mit Substanz versehene Regeln für die Relevanz der einzelnen Indizien festzulegen und dass sie zu einer „gewissen Beliebigkeit“ bei Annahme oder Ablehnung des Tötungsvorsatzes führe (vgl. Rissing van Saan/Zimmermann in: LK-StGB, 13. Aufl. 2023, § 212 Rn. 31; Puppe in: NK-StGB, 6. Aufl. 2023, § 15 Rn. 88 ff.; Saliger in: NK-StGB, 6. Aufl. 2023, § 212 Rn. 14), scheint tatsächlich „nicht ganz von der Hand zu weisen“ (Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 81).
Für die Instanzgerichte dürfte der hiesige Fall einmal mehr zeigen, dass eine umfassende und sorgfältige Würdigung aller Indiztatsachen unumgänglich ist. Auch weiterhin wird es stets auf die Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls ankommen. Auch zeigt die hiesige Entscheidung erneut, dass Gegenindikatoren, wie eine spontane Begehungsweise, nicht leichtfertig zur Ablehnung des Vorsatzes herangezogen werden sollten.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Bei Bejahung des Tötungsvorsatzes wird das neue Tatgericht schließlich die Frage zu klären haben, ob der Angeklagte im hiesigen Fall strafbefreiend von dem mittäterschaftlich versuchten Totschlag zurückgetreten sein könnte. Die Prüfung des Rücktritts war dem BGH hier nicht möglich, weil das Landgericht – nach seiner Lösung konsequent – die hierfür notwendigen Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Angeklagten nicht getroffen hat. Insoweit wären Feststellungen dazu erforderlich, ob der Angeklagte glaubte, dass er selbst oder ein anderer Beteiligter die Tat zum Zeitpunkt des Rücktrittshorizonts mit den vorhandenen Mitteln nicht mehr ohne eine wesentliche zeitliche Zäsur hätte vollenden können (vgl. BGH, Beschl. v. 27.11.2019 - 2 StR 609/18). Sofern die Tat hiernach nicht bereits fehlgeschlagen war, wäre zu prüfen, ob das bloße Nichtweiterhandeln des Angeklagten für die Erfolgsverhinderung i.S.d. § 24 Abs. 2 StGB ausreichen konnte (denkbar ist dies, wenn Mittäter beim Versuch einvernehmlich gehandelt haben und mit dem Rücktritt des jeweils anderen einverstanden sind (BGH, Beschl. v. 24.01.2023 - 6 StR 488/22 - NStZ 2023, 541)). Nähere Feststellungen mit Blick auf die Vorstellungen des Angeklagten bei seiner Flucht wären zudem mit Blick auf die Freiwilligkeit des Rücktritts erforderlich. Jedenfalls, sofern die Flucht durch die Abwehrhandlung des Nebenklägers veranlasst wurde, der „wahrscheinlich“ sein Fahrrad zur Verteidigung erhoben hat, und sofern das Anheben des Fahrrads ein für den Angeklagten zwingendes, seine autonome Entscheidungsgewalt ausschließendes Hindernis bedeutet haben sollte (BGH, Beschl. v. 13.01.1988 - 2 StR 665/87 - BGHSt 35, 184, 186), wäre ein etwaiger Rücktritt des Angeklagten nicht freiwillig.
Schließlich wird der Sachverhalt bei gleichbleibenden Feststellungen die Prüfung des Mordmerkmals der Heimtücke erfordern. Die vorangegangene verbale Auseinandersetzung würde die Arglosigkeit des Nebenklägers nur dann berühren, wenn der Nebenkläger mit einem erheblichen tätlichen Angriff durch den Angeklagten gerechnet hat (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.02.2012 - 1 Ss 90/11 - NStZ-RR 2012, 371; BGH, Urt. v. 15.11.2017 - NStZ 2018, 97 f.), wofür nach den Feststellungen des Landgerichts keine Anhaltspunkte bestanden. Die Tatsache, dass der Nebenkläger „schnell aufgestanden war“, nachdem die Angreifer das Gebüsch verlassen hatten, mag zwar darauf hindeuten, dass der Nebenkläger die Gefahr kurz vor dem Angriff erkannt hatte. Gleichwohl lag dieser Zeitpunkt nach dem Eintritt der drei Angreifer in das Versuchsstadium und somit nach Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, auf den die Rechtsprechung maßgeblich bei der Bestimmung der Arglosigkeit abstellt (vgl. nur BGH, Urt. v. 25.11.2015 - 1 StR 349/15 - NStZ-RR 2016, 43). Die Wahl des Zeitpunkts und die Näherung aus dem Gebüsch, zumal mit zwei weiteren Beteiligten, die der Nebenkläger zuvor nicht gesehen hatte, legen zudem nahe, dass dem Angeklagten bewusst war, einen durch Arglosigkeit schutz- und wehrlosen Menschen zu überraschen und dass er diese Situation gerade für die Tatausführung ausnutzen wollte (vgl. BGH, Urt. v. 12.06.2014 - 3 StR 154/14 - NStZ 2014, 507, 508 f. m. Anm. Schiemann; NStZ-RR 2022, 47, 48).



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