1. Erlangt ein erstinstanzlich übergangener Muss-Beteiligter Kenntnis von der bloßen Existenz einer für ihn nachteiligen instanzbeendenden Entscheidung, ohne deren Inhalt zu kennen, entsteht für ihn eine Obliegenheit zur Erkundigung über den Inhalt der Entscheidung.
2. Zugleich beginnt in entsprechender Anwendung von § 18 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 FamFG der Lauf einer Beschwerdefrist von einem Jahr.
- A.
Problemstellung
Unter welchen Voraussetzungen kann ein Betroffener, der entgegen den verfahrensrechtlichen Vorgaben zum erstinstanzlichen Verfahren beim Familiengericht nicht als formell Beteiligter herangezogen wurde, Rechtsmittel gegen die Endentscheidung einlegen, wenn diese ihm erst nach Ablauf der regulären Beschwerdefrist des § 63 Abs. 1 FamFG bekannt wird?
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Im Juli 2012 beantragte der Ehemann die Scheidung seiner 2008 geschlossenen Ehe. Dabei gab er an, dass ihm der Aufenthalt der Antragsgegnerin nicht bekannt sei. Das Amtsgericht bewilligte die öffentliche Zustellung des Scheidungsantrages und der Ladung zum Termin. Im Februar 2014 erging der Scheidungsbeschluss, der zum Zwecke der öffentlichen Zustellung an die Antragsgegnerin länger als einen Monat an der Gerichtstafel des Amtsgerichts ausgehängt wurde. Noch im gleichen Jahr verstarb der Antragsteller.
Am 14.03.2023 erhielt der Verfahrensbevollmächtigte der Ehefrau eine Abschrift des Scheidungsbeschlusses und legte sodann (erst) am 31.05.2023 Beschwerde gegen den Scheidungsausspruch ein, der damit begründet wurde, dass der angefochtene Beschluss bislang nicht förmlich zugestellt worden sei. Das Amtsgericht habe zu Unrecht die öffentliche Zustellung angeordnet und sich allein auf die Angaben des Antragstellers verlassen, wonach die Antragsgegnerin unbekannt verzogen sei. Tatsächlich sei sie bis heute unter ihrer in der Heiratsurkunde angegebenen Anschrift postalisch erreichbar gewesen.
Mit der Beschwerde begehrte die Antragsgegnerin daher die Feststellung, dass das Scheidungsverfahren durch den Tod des Antragstellers erledigt sei.
Das OLG Bremen hat die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts als unzulässig verworfen.
Das OLG Bremen hat zunächst geprüft, ob die im amtsgerichtlichen Verfahren erfolgten öffentlichen Zustellungen wirksam waren und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dies nicht der Fall ist:
Unbekannt sei der Aufenthalt einer Person nur dann, wenn nicht nur das Gericht, sondern auch die Allgemeinheit den Aufenthalt des Zustellungsadressaten nicht kennt. Dabei sei es zunächst Sache der Partei, die durch die Zustellung begünstigt wird, alle geeigneten und ihr zumutbaren Nachforschungen anzustellen, um den Aufenthalt des Zustellungsempfängers zu ermitteln und ihre ergebnislosen Bemühungen gegenüber dem Gericht darzulegen. Die begünstigte Partei sei daher auch gehalten, durch persönliche Nachfragen beim ehemaligen Arbeitgeber, bei dem letzten Vermieter oder bei Hausgenossen und Verwandten des Zustellungsadressaten dessen Aufenthalt zu ermitteln. Habe das Gericht Zweifel an der Darstellung des Zustellungsbetreibers, sei es, sofern die Zustellung von Amts wegen vorzunehmen sei, auch zu eigenen Überprüfungen verpflichtet.
Diesen Anforderungen genügen weder die vom Antragsteller dargelegten Nachforschungen noch die Nachforschungen des Amtsgerichts. Der Antragsteller habe dem Amtsgericht nicht einmal die ihm zuletzt bekannte Wohnanschrift der Antragsgegnerin mitgeteilt. Das Amtsgericht habe insoweit auch nicht nachgefragt. Zudem seien keine Bemühungen erfolgt, über ehemalige Nachbarn der Antragsgegnerin deren aktuelle Erreichbarkeit in Erfahrung zu bringen.
Infolge der Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellungen sei die einmonatige Beschwerdefrist des § 63 Abs. 1 FamFG für die Antragsgegnerin nicht in Lauf gesetzt worden. Gleiches gelte für die fünfmonatige Frist des § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG, denn diese laufe nach der Rechtsprechung des BGH nicht für einen beschwerdeberechtigten, in der ersten Instanz nicht hinzugezogenen Beteiligten, dem der erstinstanzliche Beschluss nicht bekannt gegeben worden sei.
Jedoch habe der BGH entschieden, dass Rechtskraft in entsprechender Anwendung des § 63 Abs. 3 Satz 1 FamFG auch ohne schriftliche Bekanntgabe des Beschlusses eintreten kann, wenn ein übergangener Muss-Beteiligter auf andere Weise Kenntnis von der Entscheidung erlangt, da dieser sonst durch bloße Untätigkeit die Rechtskraft auf unbestimmte Zeit aufschieben könnte (BGH, Beschl. v. 10.06.2021 - IX ZR 6/18 Rn. 34 ff.). Spätestens dann, wenn dem Betroffenen die Entscheidung in Textform vorliege und er Kenntnis von ihrem Inhalt habe nehmen können, könne verlangt werden, dass er zur Wahrung seiner Rechte ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlege. Offengelassen habe der BGH, ob nach Kenntniserlangung vom Inhalt der Entscheidung eine Beschwerdefrist von einem Monat (§ 63 Abs. 1 FamFG), von fünf Monaten (entsprechend § 63 Abs. 3 FamFG) oder sogar von einem Jahr (entsprechend § 18 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 FamFG) zu laufen beginnt. Nach Auffassung des Senats sei in einem derartigen Fall die – hier gewahrte - Frist von fünf Monaten des § 63 Abs. 3 FamFG anzuwenden. Denn der übergangene Beteiligte müsse sich anders als ein förmlich am Verfahren Beteiligter erst durch Akteneinsicht einen Überblick über das Verfahren verschaffen, um die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einschätzen zu können. Demnach wäre die Einlegung der Beschwerde am 31.05.2024 an sich nicht verspätet gewesen.
Vom BGH sei aber im Beschluss vom 10.06.2021 (IX ZR 6/18 Rn. 37) ausdrücklich offengelassen worden, ob eine Beschwerdefrist auch dadurch in Gang gesetzt werden könne, dass ein übergangener Muss-Beteiligter von der bloßen Existenz einer Entscheidung Kenntnis erlangt, ohne deren Inhalt zu kennen. Der angegangene Senat des OLG Bremen ist der Auffassung, dass auch in einem solchen Fall jedenfalls eine Beschwerdefrist von einem Jahr in entsprechender Anwendung von § 18 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 FamFG in Gang gesetzt wird. Denn durch die Kenntniserlangung von der Existenz einer für ihn nachteiligen Entscheidung entstehe für den übergangenen Beteiligten eine Erkundigungspflicht. Eine solche Erkundigungspflicht bestehe zwar nicht schon dann, wenn ein übergangener Muss-Beteiligter auf anderem Wege lediglich von der Existenz eines Verfahrens erfährt. Sie entstehe aber dann, wenn er von der Existenz einer Entscheidung Kenntnis erlange. Denn sonst hätte der übergangene Beteiligte es auch in diesem Fall durch bloßes Untätigbleiben in der Hand, dass die Entscheidung für unbestimmte Zeit nicht in Rechtskraft erwachse.
Das OLG Bremen hat im konkreten Fall aus dem Vorbringen der Antragsgegnerin entnommen, dass ihr bereits Mitte 2018 die Sterbeurkunde des Antragstellers zugegangen war und dass dort als Familienstand „geschieden“ vermerkt war. Zudem war ihr mit Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom Oktober 2018 mitgeteilt worden, dass im Zeitpunkt des Todes des Antragstellers keine rechtsgültige Ehe bestanden habe. Aufgrund dieser Informationen sei der Antragsgegnerin bereits im Jahre 2018 positiv bekannt gewesen, dass der Antragsteller geschieden war. Daher habe sich der anwaltlich vertretenen Antragsgegnerin die Existenz eines Scheidungsbeschlusses aufdrängen müssen, was die dargestellte Erkundigungspflicht zur Folge gehabt habe und jedenfalls eine Beschwerdefrist von einem Jahr in entsprechender Anwendung von § 18 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 FamFG in Gang gesetzt habe.
Die erst am 31.05.2023 eingelegte Beschwerde sei daher verfristet und ist daher vom OLG Bremen als unzulässig verworfen worden.
- C.
Kontext der Entscheidung
Nach Inkrafttreten des FamFG (am 01.09.2009) wurde lange über die im Gesetz nicht gelöste Frage diskutiert, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein erstinstanzlich übergangener Beteiligter Beschwerde gegen eine ihn belastende Entscheidung einlegen kann. Zwischenzeitlich liegt eine gefestigte Rechtsprechung des BGH vor, die auch das OLG Bremen zugrunde legt.
Der besondere Wert der Entscheidung des OLG Bremen besteht darin, dass sie sich auch zu Fragestellungen positioniert, die der BGH noch nicht beantwortet hat:
- Der Lauf einer Rechtsmittelfrist werde nicht erst in Gang gesetzt, wenn dem übergangenen Beteiligten die Entscheidung in Textform vorliege, sondern bereits dann, wenn er aufgrund anderer Umstände davon erfahre, dass eine solche Entscheidung existiere.
Damit geht das OLG Bremen über Auffassungen in der Literatur hinaus, die darauf bestehen, dass die Entscheidung vom Gericht übermittelt worden sein muss, andernfalls sei das Tatbestandsmerkmal „Bekanntgabe“ nicht erfüllt (so Abramenko in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Aufl. 2023, § 63 Rn. 8).
Die Auffassung des OLG Bremen überzeugt: Bereits aus dem Wortlaut des § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG ergibt sich, dass eine Rechtsmittelfrist auch ohne (schriftliche) Bekanntgabe der Entscheidung beginnen kann. Zudem dürfte es keine Überforderung darstellen, wenn man von einem Beteiligten, der durch ihm zugegangene amtliche Dokumente (Sterbeurkunde, Bescheid der DRV) erfährt, dass offensichtlich ein Scheidungsausspruch erfolgt ist, verlangt, sich weiter zu erkundigen.
- Auch die weiteren Festlegungen des OLG Bremen zur Länge der Fristen überzeugen: Für den Fall, dass dem übergangenen Beteiligten die Entscheidung in Textform zugeht, sei die Frist des § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG (5 Monate) angemessen und im Falle der Kenntniserlangung auf andere Weise – in entsprechender Anwendung des § 18 Abs. 3 FamFG – die Maximalfrist der Wiedereinsetzung von einem Jahr.
- D.
Auswirkungen für die Praxis
Mit seiner Entscheidung macht das OLG Bremen der übrigen Rechtsprechung einen in sich stimmigen Vorschlag, die noch nicht höchstrichterlich entschiedenen Probleme im Zusammenhang mit einem übergangenen Beteiligten zu lösen.
Für den anwaltlichen Vertreter erscheint die nachstehende Erörterung der Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung von besonderer Bedeutung.
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Wenig Mühe hätte das Beschwerdegericht nämlich gehabt, wenn die vom Amtsgericht veranlassten öffentlichen Zustellungen wirksam gewesen wären. Dann wäre gemäß § 188 ZPO einen Monat nach Aushang der in § 186 ZPO vorgesehenen Benachrichtigung an der Gerichtstafel die Beschwerdefrist des § 63 Abs. 1 FamFG in Lauf gesetzt worden. (§ 15 Abs. 2 FamFG enthält eine Verweisung auf die Zustellungsnormen der ZPO; in Ehe- und Familienstreitsachen wird deren Anwendung durch § 113 Abs. 1 FamFG vorgegeben.)
Zutreffend hat das OLG Bremen geprüft, ob die Voraussetzungen des § 185 ZPO vorlagen, insbesondere, ob der Aufenthaltsort der Antragsgegnerin tatsächlich unbekannt gewesen war. Dies wäre dann nicht der Fall gewesen, wenn er mit zulässigen und zumutbaren Mitteln hätte in Erfahrung gebracht werden können (vgl. Stockmann, FamRB 2024, 293, 294). Der BGH fordert daher, dass der Zustellungsbetreiber entsprechende Nachforschungen gegenüber dem Gericht belegt (BGH, Urt. v. 04.07.2012 - XII ZR 94/10).
Es ist dann Aufgabe des Gerichts, diese Angaben des Zustellungsbetreibers dahingehend zu bewerten, ob alle möglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft wurden. Ggf. ist dem Antragsteller durch einen rechtlichen Hinweis die Möglichkeit zu ergänzenden Ermittlungen zu geben. Darüber hinaus ist das Gericht selbst verpflichtet (beiderseitige Nachforschungspflicht), eigene Ermittlungen anzustellen, insbesondere solche, bei denen eine Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine gerichtliche Anfrage erfolgversprechender ist als die einer Privatperson. In Scheidungsverfahren kann das Familiengericht beispielsweise bei den Rentenversicherungsträgern nach Informationen über den aktuellen Aufenthalt des Antragsgegners nachfragen.
Erst wenn alle Ermittlungsversuche vergeblich waren, kann von einem „unbekannten Aufenthalt“ ausgegangen und die öffentliche Zustellung bewilligt werden.
Für den anwaltlichen Vertreter des Antragstellers – und möglicherweise auch für das Gericht – mag die beiderseitige Ermittlungspflicht vor Ausführung der Zustellung ungelegen sein. Der besprochene Fall zeigt aber auf, welche Probleme auftreten, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung nicht gegeben waren.